Vikar Otto Sprecher hinter einer Frau auf dem sumpfigen Lagerweg mit Oberleutnant Schmid (ca. 1940). Foto: Staatsarchiv des Kantons Bern, N Gribi 6.49

Seelsorger für Internierte

Der katholische Vikar Otto Sprecher berichtet von erschütternden Zuständen im Internierungslager bei Büren an der Aare.

Ab 1940 lebten internierte polnische Soldaten in einem militärisch geführten Lager bei Büren an der Aare. 1942 folgten zivile Flüchtlinge. Ein kürzlich entdeckter Bericht des katholischen Vikars Otto Sprecher über seine Besuche bei Gläubigen dort zeugt von erschütternden Zuständen.

Autorin: Hannah Einhaus

«Es fehlte an menschlichem Kontakt. Die Flüchtlinge fragten: ‹An wen soll ich mich wenden, wenn nicht an Sie, Herr Pfarrer?› Ob Jude oder Ungläubiger, ob Christ oder Nicht-Christ, für mich waren es verfolgte Menschen, die ihre Menschenwürde nie verlieren durften.» Dies schrieb der katholische Pfarrer Otto Sprecher 1979 in einem Rückblick auf seine Jahre als Vikar in Biel. Von dort aus hatte er 1942 mehrfach das Auffanglager bei Büren a. A. mit seinen christlichen und jüdischen Flüchtlingen besucht.

Zwei Jahre zuvor war das Lager für 6000 internierte Soldaten angelegt worden, ab September 1942 diente es der Aufnahme von zivilen, meist jüdischen Flüchtlingen, denen es trotz hermetischer Grenzabriegelung gelungen war, in die Schweiz zu kommen – dem einzigen Land Europas, das nicht direkt in die Kriegshandlungen verwickelt war. Bereits im Januar 1943 verfasste Sprecher einen längeren Bericht mit 66 Notizen über die Lebensumstände im Lager und das (Nicht-)Wohlergehen der Flüchtlinge, sowohl christlichen wie jüdischen.

Immer wieder zeigt sich bei den Insassen des vom Städtchen abgeschotteten, mit Stacheldraht umgebenen Lagers das Bedürfnis, sich einem Menschen anvertrauen zu können. «Die bewaffnete Lagerwache war dafür natürlich nicht geeignet,» notiert Sprecher. Eine verzweifelte Frau kommt im Dezember 1942 auf ihn zu: «Seit zwei Monaten sind Sie die erste Person, die sich um uns kümmert. Jetzt habe ich wieder Mut und mache meinem Leben doch kein Ende.»

Bescheidenste Wünsche

Sprecher beginnt, alle 14 Tage Gottesdienste mit anschliessender Sprechstunde abzuhalten. Bescheidenste Wünsche gehen bei ihm ein, etwa nach Rasierzeug, einem Kamm, Zahnpasta, Watte, Binden, Seife, Scheren, Nähzeug, Kalendern, Zigaretten oder Hosenträger. Sprecher skizziert, was es heisst, Familie, Haus und Heimat plötzlich zu verlassen und in ein fremdes Land zu fliehen – «in das letzte, das noch frei ist». Und: «Wer sich nicht beeindrucken lässt durch das, was er unter den Flüchtlingen hört und sieht, ist ein Unmensch.» Die schweizerische Flüchtlingspolitik sei kein Ruhmesblatt, hält Sprecher bereits zu jenem Zeitpunkt fest.

Tausende von polnischen Soldaten hatte die Schweiz hier zuvor interniert, für Sprecher alles «Feiglinge». Bei den Flüchtlingen, insbesondere den jüdischen, gelten die humanitären Traditionen offenbar nicht mehr. Den Zustand des Lagers in Büren a. A. kritisiert Sprecher unverblümt: «Der Unterschied zwischen irgendeinem ausländischen Lager und unserem schweizerischen Lager ist zu wenig in die Augen springend, was für uns keine Ehre ist.» Regelmässig gehen Klagen bei ihm ein. So bringt Sprecher sogar Kartoffeln ins Lager, so gross ist die dortige Hungersnot. Für die Weihnachtsfeier von 1942 erfährt er grosse Dankbarkeit. «Die bisher Gehetzten beginnen sich wieder als Menschen zu fühlen und zu bewerten», hält er fest. «Alle fühlen sich gestärkt, neue Hoffnung blüht auf.» Schon nur das Zuhören habe eine beruhigende, blitzableitende Wirkung.

Unermessliche Ungewissheit

Hoffnung hängt in dieser Zeit bei den Flüchtlingen an einem dünnen Faden. Die Ungewissheit über das Befinden Ihrer Angehörigen nagt. Gemäss Sprechers Bericht warteten Internierte mit Bangen auf Nachrichten und Briefe. Das versteinerte, fahle Gesicht eines Mannes nach einer Todesnachricht ist ihm ebenso in Erinnerung geblieben wie das überglückliche Paar beim lange ersehnten Wiedersehen. «Alle materiellen und physischen Leiden sind nichts zu den unermesslichen seelischen Leiden.»

Die Trennung von Frauen, Männern und Kindern der gleichen Familie galten – nicht nur für Sprecher – als reine Schikane. An dieser kritischen Haltung änderte sich auch nichts, als Bundesrat und Justizminister Eduard von Steiger das Lager besuchte. Doch immerhin: In den folgenden Monaten wurden die Insassen in andere Lager verteilt.

 

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