Fahrende auf dem Schermenareal in Bern. Foto: Keystone, Gian Ehrenzeller

«Standplätze sind für die Fahrenden existenziell wichtig»

Christoph Albrecht, Seelsorger der Fahrenden, im Gespräch

Christoph Albrecht, Seelsorger der Fahrenden, begrüsst den Entscheid des Bundesgerichts zum Berner Polizeigesetz*. Im Interview erzählt er, wie er gemeinsam mit den Fahrenden Kirche lebt.

Von Sylvia Stam

«pfarrblatt»: Das Bundesgericht hat beim Berner Polizeigesetz zugunsten der Fahrenden entschieden. Sind Sie erleichtert?

Christoph Albrecht: Ich begrüsse den Entscheid des Bundesgerichts sehr. Eine Ablehnung der Beschwerde wäre einem KO-Schlag für die Kultur der Fahrenden gleichgekommen, etwa wenn andere Kantone nachgezogen hätten. Der Observationsartikel wäre ein ungeheurer Eingriff in die Privatsphäre dieser Schweizer Bürgerinnen und Bürger gewesen. Eine solche Überwachung wäre ausserdem diskriminierend.

Was würde eine Wegweisung konkret bedeuten?

Es gibt in der Schweiz zu wenig Stand- und Durchgangsplätze. Die Fahrenden müssen also manchmal von einem Platz weg, weil die vereinbarte Zeit vorbei ist, ohne einen anderen Platz zu haben. Solche Plätze sind für die Fahrenden jedoch existenziell wichtig, weil viele von ihnen einen Beruf haben, in dem eine nomadenhafte Lebensform sinnvoll ist. Ein Mann ist beispielsweise auf die Wartung bestimmter Gastronomiemaschinen spezialisiert, er kommt einmal im Jahr vorbei und hat Kunden von St. Gallen bis Genf. Zur Kultur der Fahrenden gehört ausserdem das innere Bedürfnis, weiterziehen zu können.

Was ist Ihre Aufgabe als Seelsorger der Fahrenden?

Ich bin für die katholischen Jenischen in der Schweiz zuständig. Meine Aufgabe ist es, mit den Fahrenden an einer inkulturierten Kirche zu bauen. Das bedeutet, dass wir gemeinsam an einer Kirche bauen, die sich in ihrer Kultur verankert. Ich setze ihnen kein Programm vor, sondern gehe auf sie ein. Wenn zum Beispiel ein Kind krank ist, beten wir mit der ganzen Verwandtschaft und darüber hinaus mit der ganzen Gemeinde der Fahrenden für das Kind. Sie kommen aber auch mit religiösen und theologischen Fragen zu mir.

Was für Fragen sind das?

Sie wollen das Alte Testament besser kennen lernen und seinen Bezug zum Neuen Testament verstehen. Sie möchten wissen, was der Sinn der Taufe ist und welches Verhältnis die Heiligenverehrung zu den Bitten hat, die wir direkt an Gott richten. Maria, die Muttergottes, spielt für einige eine grosse Rolle.

Weshalb?

Sie wissen von ihren Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern, welche Stütze diese durch das Gebet zu Maria erfahren haben. Die Ex Voto-Tafeln in den Marien-Wallfahrtsorten sprechen ihre Sprache.

Inwiefern prägt die Lebensweise der Fahrenden auch ihre Spiritualität?

Die katholischen Jenischen haben eine durch ihre Familiengemeinschaften geprägte Frömmigkeit. Eltern und Grosseltern geben ihren Kindern das praktische Gottvertrauen weiter, welches sie tagtäglich brauchen, um in ihrem Alltag voller Überraschungen zu bestehen. In ihrem Glauben leben sie auch Verbundenheit und Treue gegenüber früheren Generationen. Auf den Stand- und Durchgangsplätzen sind sie immer wieder in Kontakt mit Leuten anderer religiöser Gruppen, welche die katholische Weise des christlichen Glaubens verachten. Das führt manche Familien in schwierige Situationen, ist aber ein zusätzlicher Anlass, den eigenen Glauben besser kennen zu lernen.

Haben die Fahrenden Kontakt zu Pfarreien vor Ort?

Ja, und wir fördern das auch. Manche Familien schicken ihre Kinder zur Vorbereitung auf ein Sakrament in die pfarreilich organisierten Kurse und an gewissen Festen beteiligen wir uns gemeinsam an Gottesdiensten in Pfarreien. Letztes Jahr haben wir beispielsweise gemeinsam am ökumenischen Kreuzweg in Birmensdorf durch den Wald teilgenommen.

Gibt es besondere Höhepunkte im Jahr?

Ein wichtiges Ereignis ist die jährliche Wallfahrt im Juli nach Einsiedeln. Rund 70 bis 100 Wohnwagen nehmen jeweils daran teil, das sind etwa 300 Personen. Wenn die Corona-Massnahmen es zulassen, führen wir sie dieses Jahr auch durch. Die meisten Gottesdienste finden sowieso auf dem Feld statt.

 

* Der Jesuit Christoph Albrecht (54) arbeitet zusammen mit Aude Morisod in der Katholischen Seelsorge der Fahrenden in der Schweiz. Diese wird mit zwei 50%-Stellen von Migratio, der Kommision der Schweizer Bischofskonferenz für Anderssprachige und Menschen unterwegs, finanziert.

Hinweis: Bauern, die Boden haben, der sich als Durchgangsplatz eignen würde, können sich
an christoph.abrecht@jesuiten.org wenden.


*Am 29. April hat sich das Bundesgericht gegen die «Lex Fahrende» im Berner Polizeigesetz ausgesprochen. Fahrende dürfen somit nicht ohne entsprechende Verfügung und rechtliches Gehör innert kürzester Frist weggewiesen werden. Auch der Artikel zum Einsatz von GPS-Geräten für die Observation wurde gestrichen. Gegen das Gesetz hatten 21 Organisationen Beschwerde eingereicht.

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