40 Jahre – 40 Briefe: Priscilla Schranz hat ein Buch in Briefform geschrieben. Ein Brief fehlt allerdings noch: jener an Gott.
von Marcel Friedli
Hier steht sie, die Grossmutter, hier auf dem Pausenplatz. Sie holt Priscilla von der Schule ab. Priscilla ist mulmig zumute. Ja: Die Grossmutter überbringt der Zehnjährigen die Hiobsbotschaft, dass Priscillas ältere Schwester Krebs hat.
Das ist eine der Szenen, die Priscilla Schranz in ihrem Brief an ihre verstorbene Grossmutter beschreibt. «Sie hat mich auf jene Art abgeholt, die für mich stimmig war: über den Kopf», sagt die heute vierzigjährige Priscilla Schranz. «Sie hat mir ein Buch in die Hand gedrückt, in der alles über diese Art von Krebs geschrieben stand.»
Für Priscilla Schranz ist dies eine der vielen positiven Erinnerungen an ihre Grossmutter. «Wobei ich mich heute frage, ob ich auch etwas für mein Herz gebraucht hätte: Trost, eine Umarmung. Das schreibe ich meiner Grossmuter in diesem Brief. Ich nehme an, dass sie selber unter Schock stand: Es war ja ihre Enkelin, die mit fünfzehn Jahren an einer Krankheit litt, die lebensbedrohend war.» Vermutlich habe es ihre Grossmutter grosse Überwindung gekostet, ihr das zu sagen, und sie sei selber damit überfordert gewesen. «Sie machte es so gut, wie es ihr möglich war.»
In der Mitte des Lebens
Dies ist eine Episode aus einem der vierzig Briefe, die Priscilla Schranz an vierzig verschiedene Personen geschrieben hat. Keine gewöhnlichen Briefe sind das – es sind Briefe für ein Buch, das sie im Rahmen eines Kulturprojekts (vgl. Kasten) verfasst hat. Meist entstehen solche Werke im Alter, wenn man aufs Leben zurückblickt.
Für Priscilla Schranz war es indes die vermutete Mitte ihres Lebens, aus der sie den Blick zurück aufs Bisherige wagte. «Auch für meine Kinder habe ich das gemacht », sagt sie. «Damit sie das später nochmals lesen können und so wissen, welche Menschen mein Leben prägen und geprägt haben.»
Beziehungen vertieft
Nachdem das Buch gedruckt war, gab es Priscilla Schranz zum Lesen. Zum Beispiel ihrem Mann. «Er war berührt, Dinge aus meinem Leben zu erfahren, die er nicht so genau gewusst hat, obwohl wir uns schon recht lange kennen.»
Ähnliches hat Priscilla Schranz auch mit ihren beiden Schwestern erlebt – auch mit jener, die den Krebs überlebt hat. «Zu wunderbaren Gesprächen kam es, welche unsere Beziehung vertieft haben. Spannend zu hören, welche Erinnerungen sie an unsere Kindheit haben.»
Die 40 Briefe machen Lust auf mehr – es gäbe noch viele zu schreiben, auch schwierige: zum Beispiel den Brief an ihre Mutter, an ihren Vater. Und an eine Freundin, zu welcher der Kontakt abgebrochen ist. «Ich hätte schon Lust, da anzuknüpfen», sagt Priscilla Schranz. «Dazu bräuchte ich aber wieder diesen zeitlichen Rahmen des Projekts.»
Aber: In der Zwischenzeit hat sie ihr Pensum als Logopädin von fünfzig auf siebzig Prozent aufgestockt. «Mit Familie und Beruf läuft immer sehr viel – es benötigt Disziplin, sich die Zeit zum Schreiben zu nehmen.»
Schlummernde Sehnsucht
Wobei es Priscilla Schranz in den Fingern juckt. Denn es fehlt zudem ein ganz spezieller Brief: «Einen Brief an Gott zu schreiben», sagt Priscilla Schranz, «das reizt mich.» Die Sehnsucht nach dem Essenziellen schlummert, um in Worte gekleidet zu werden. «Ich bin selber gespannt, was ich Gott schreiben
würde.»
Der Traum vom eigenen Buch
Das Werk von Priscilla Schranz ist eines von rund 750 Büchern, das im Rahmen des Kulturprojekts Edition Unik erschienen ist.
Das Kulturprojekt bietet Schreibfreudigen die Gelegenheit, den Traum vom eigenen Buch zu verwirklichen: Nach gut vier Monaten halten die meisten zwei Exemplare des eigenen Buches in den Händen. Nicht alle schaffen das: Zehn Prozent brechen ab. Einige unterschätzen den zeitlichen Aufwand, andere scheitern an zu hohen inneren Anforderungen.
Vier Schreibrunden in Form von informativen Treffen in Bern, Basel, Zürich oder online helfen, dem Prozess den Rahmen zu geben. Mitmachen können alle: ob Einsteiger oder Schreibprofi. Allein die Freude am Schreiben zählt – und die Bereitschaft, sich darauf einzulassen. «Vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern hilft das Schreiben », sagt Annina Weber von Edition Unik. «Oft werden Erinnerungen geweckt, die nicht mehr präsent waren. Das empfinden die Autor:innen als bereichernd.»
Sich zu erinnern kann indes auch Gefühle hochspülen und Krisen auslösen, wie Annina Weber einräumt. «Hin und wieder hören wir von den Autorinnen und Autoren, dass sie von Erinnerungen und Gefühlen überwältigt worden sind. Gelingt es, eine solche Krise zu überwinden, stellt sich Erleichterung ein. Oft kann eine Geschichte dann abgehakt werden.»
www.edition-unik.ch