Tapfer und tüchtig: die «Tschinggen» von damals

Vor 50 Jahren – die Schwarzenbach-Initiative*

Die Überfremdungsinitiative des rechtskonservativen Nationalrats James Schwarzenbach traf 1970 vor allem italienische Migrant*innen. Vier Zeitzeug*innen erzählen.

Von Anouk Hiedl

«Wenn Schwarzenbach kommt, werden wir weggeschickt»

Maria Pelusi wuchs in den Abruzzen auf. Ihre Familie lebte in ärmlichen Verhältnissen. Sie wünschte sich ein besseres Leben, Arbeit, Geld und etwas für sich. Mit 20 heiratete sie und reiste 1965 mit ihrem Mann in die Schweiz, wo er seit drei Jahren bei der Weibel AG, einem Unternehmen für Schweizer Strassen- und Betonbau, arbeitete. Bei der Uhrenfabrik Rüfenacht in Thun fand auch seine junge Frau rasch Arbeit. «Der Anfang hier war hart. Wir lebten zusammen mit zwei Familien in einer einfachen Arbeiterunterkunft. Wir hatten kein Bad, das WC war draussen. Wir heizten mit Holz und wuschen unsere Wäsche im Keller.»

Als Saisonniers musste das Paar die Schweiz jeweils im Dezember verlassen und kehrte im Frühling mit einem neuen, befristeten Arbeitsvertrag zurück. Eine eigene Familie gründeten die beiden bewusst erst, nachdem sie Jahresverträge unterschreiben konnten. 1969 kam ihr erstes Kind zur Welt. Eines Tages, Maria Pelusi war mit dem Kinderwagen unterwegs, beschimpfte sie jemand als «Tschinggeli», was sie sehr traf. «Wir arbeiteten hier, um etwas Geld zu verdienen und wieder in unser Land zurückkehren zu können.»

An die Überfremdungsinitiative erinnert sie sich nicht, wohl aber an Schwarzenbach. Man habe damals gehört, «wenn Schwarzenbach kommt, werden wir weggeschickt.» Selbst unter besseren Arbeitsbedingungen lebten Pelusis stets mit der Angst, ausgewiesen zu werden. «Wir müssen still bleiben, wenn wir hier arbeiten wollen», hiess ihre Devise. Maria Pelusi traf immer wieder auch wohlgesinnte Schweizer*innen. Ihre Nachbarin Frau Zimmerli – «una brava persona» – hütete tagsüber die Kinder und sei wie eine Mutter für sie und ihre Familie gewesen. Nach der Geburt des zweiten Kindes konnte Maria Pelusi 1971 auf Heimarbeit umstellen. Sie bekam einen Tisch, ein Binokular und Werkzeug nach Hause. Tagsüber kümmerte sie sich um ihre Kinder und nachts sortierte sie die Rubinsteine für die Uhren.

Vor 55 Jahren sei die Schweiz noch ganz anders gewesen als heute. Es gab viel zu tun, nach Arbeit habe man nicht lange suchen müssen. Sozialhilfe habe es damals nicht gegeben, erinnert sich Maria Pelusi. Die Schweizer*innen seien früher distanzierter gewesen und hätten mehr Angst vor Fremden gehabt. «Doch wir haben neben- und miteinander gelebt. Unsere Jungen sind zusammen aufgewachsen, und wir sind alle zusammengewachsen.» Die Familie Pelusi habe immer wieder in Betracht gezogen, nach Italien zurückzukehren. Als die Kinder in die Schule kamen, mussten sie sich entscheiden: Sie blieben. Auch heute bleiben sie, der Enkelkinder und der Familie wegen. Auch nach einem halben Jahrhundert in der Schweiz ist Maria Pelusi Italienerin geblieben. Und sie respektiert und grüsst alle Leute, damals wie heute.

«Wir alle arbeiteten für eine bessere Schweiz»

Gaetana und Valentino Fortunato stammen aus Apulien. Beide leben mittlerweile seit gut 50 Jahren in der Schweiz. Er wurde 1964 bei den Metallwerken Selve AG in Thun angestellt und machte dort eine Ausbildung zum Maschineneinrichter. Der Firma blieb er bis zu ihrem Konkurs 1993 treu. «Ich war froh, dort zu arbeiten und etwas zu verdienen. Das ermöglichte mir ein besseres Leben.»

Auch Gaetana Fortunato hat ihre Emigration in guter Erinnerung. Sie verliess ihre Heimat Anfang 1970 und fand in der Schweiz schnell Arbeit. «Schon im April konnte ich zu 100 Prozent bei Hoffmann Neopac in Thun anfangen. Dort kontrollierte ich die hergestellten Verpackungen minutiös. Ursprünglich wollte ich das zwei, drei Monate lang machen. Schliesslich habe ich 42 Jahre lang, bis zu meiner Pensionierung, dort gearbeitet.»

In den 1960ern sei die Stimmung in der Schweiz angespannt gewesen. «Manche Migrant*innen fürchteten sich vor einer Entlassung und Ausweisung», erinnert sich Valentino Fortunato. «Saisonniers mussten auf Ende Jahr jeweils immer wieder ausreisen», ergänzt seine Frau. «Das war bei meiner Schwester der Fall. Ihr Kind lebte bei der Nonna in Italien, und aus Angst, nicht zurückkommen zu können, blieb sie 1970 über Weihnachten in der Schweiz.

Weil sie keinen Jahresvertrag bekam, kehrte sie später ganz nach Italien zurück.» Das Ehepaar Fortunato war mit Jahresarbeitsverträgen bessergestellt und hatte keine Angst vor der Schwarzenbach-Initiative. Sie hörten von anderen und am TV, «dass sie uns rausschicken, weil sie uns hier nicht wollen. Unsere Arbeitgeber wollten uns behalten», sagt Valentino Fortunato. «Wir haben alle unser Maximum gegeben. Wir haben für sie gearbeitet, und sie gaben uns Geld», fügt Gaetana Fortunato an. «Der gegenseitige Respekt war immer da, das ist wichtig. Und mit ‹lavoro, casa, famiglia› hatten wir kein Problem mit dem Gesetz.»

Ja, die Schweiz sei anders als Italien. Doch das Ehepaar lernte Berge statt Meer und Schnee statt Sonne schätzen. Der grösste kulturelle Unterschied liegt für beide in der Sprache. Heute schicke man Migrant*innen in Sprachkurse, damals habe es das noch nicht gegeben. Valentino Fortunato wurde 1938 geboren, und nach dem Krieg hatte die Schule keine Priorität. «Hier ging ich in die Gewerbeschule, um Deutsch zu lernen. Als die Verben kamen, wurde es schwierig.» Mehr als «wie die Schweizer sprechen», wollte Gaetana Fortunato sie verstehen. Heute haben die beiden viele Schweizer Freunde, «wir haben uns gegenseitig angepasst und voneinander gelernt.»

Was die beiden heute über James Schwarzenbach denken? «Er wollte uns nicht alle verjagen, aber die Zahl der Migrant*innen reduzieren, damit die Schweiz wieder schweizerischer wird», meint Gaetana Fortunato. Damals seien viele Italiener*innen hergekommen, ergänzt ihr Mann, heute seien es andere Nationalitäten. «Was machen wir mit all denen, dachte Schwarzenbach, wir haben nicht Arbeit für alle. Er fürchtete, dass wir Fremden herumlungern und einen schlechten Einfluss auf die Schweizer*innen haben oder ihnen die Arbeit wegnehmen würden. Die Sekretärin der Selve AG sagte mal, wenn sie euch alle wegschicken, wer macht dann hier die Arbeit? Wir alle haben für eine bessere Schweiz gearbeitet, für alle, die hier leben.» Es sei damals ganz anders hier gewesen, es gab viel aufzubauen, viel zu tun. «Damals lebte Thun noch von der Fabrikarbeit, heute lebt die Stadt von der Kultur.»

«Es wird anders, wenn man die Leute persönlich kennt»

Rossolino Grisanti wurde 1940 in Sizilien geboren. Nach dem Zweiten Weltkrieg bekam er mit, wie viele Männer wieder heimkamen, auch aus Amerika. Er hörte viele Geschichten aus dem Ausland und Diskussionen über die italienische Politik und Korruption. Er merkte, dass er anders leben wollte. Er wünschte sich Arbeit, eine eigene Familie und bessere Umstände. So zog Rossolino Grisanti mit Anfang 20 nach Norditalien. 1964 kam er nach Lugano, 1967 dann nach Bern. Hier wechselte er vom Bau ins Gastgewerbe.

Seine erste Stelle hatte er im Casino für Kost, Logis und 280 Franken pro Monat. «Wir lebten zu dritt in einem Zimmer, ohne Schrank, WC und Heizung. Als ich deswegen zu meinem Chef ging, schmiss er mich sofort raus. Zum Glück fand ich ein Zimmer in einer Pension in der Lorraine.» Von da an ging es aufwärts. Die Wirtschaft war im Aufschwung, «man konnte zwischen den freien Stellen aussuchen». Rossolino Grisanti arbeitete sich bei «Mövenpick» zum Barchef hoch und war bald allseits bekannt und geschätzt. «Ich hatte mit vielen Leuten zu tun, auch mit Bundesräten und dem damaligen Vizekanzler und Bundesratssprecher Achille Casanova.»

Katholisch zu sein, sei in Bern nie ein Problem für ihn gewesen. Ab und zu besuchte er den Gottesdienst in der Missione Cattolica Italiana. «Heute habe ich mehr Zeit und bin öfter da. Ich finde hier meine Sprache und einen Teil meiner Wurzeln wieder. Ich habe die Schweizer Kultur immer respektiert, das ist Anstand. Hier habe ich meine Ausbildung gemacht und auch flambieren gelernt. Ich habe Dürrenmatt, Frisch und Gotthelf gelesen. Das einzige, das ich hier nicht esse, ist Leberwurst», lacht er.

Von den Umständen um die Überfremdungsinitiative hat Rossolino Grisanti wenig gespürt. «Schwarzenbach war ein Hasser, arrogant und humorlos, ähnlich wie die Nazis», sagt er. Die italienische Gewerkschaft habe sich gewehrt, er selbst sei aber so von seiner Arbeit eingenommen gewesen, dass er nicht viel davon mitbekommen habe. «Ich habe der Schweiz eine Hand gegeben und drei zurückbekommen. Meine Frau war Schweizerin. Ich kannte sie bereits und fühlte mich dadurch etwas geschützt.» Zudem habe er in Norditalien mehr Rassismus erlebt als hier. «Solche Stimmungen gibt es überall, Völker werden manipuliert, Angst wird geschürt.» Manchmal spüre er, dass Migrant*innen zwar toleriert, aber nicht akzeptiert werden. «Das wird anders, wenn man die Leute persönlich kennt.» Es sei gut gewesen, in die Schweiz zu kommen. Heute könnte er nach Italien zurückgehen, doch er bleibt, seiner Söhne wegen. «Ich bin ich schon älter, und es gefällt mir hier. Es ist schön, ruhig und sauber. Nur mit der AHV ist es eine Misere.»

*1968 lancierte der rechtspopulistische Nationalrat James Schwarzenbach eine Überfremdungsinitiative. Diese forderte eine Beschränkung des Ausländeranteils in allen Kantonen auf zehn Prozent (ausser Genf: 25 %). Saisonniers sollten von dieser Begrenzung ausgenommen bleiben, ebenso Pflege- und Spitalpersonal, qualifizierte Wissenschafter*innen und Künstler*innen sowie einige weitere Gruppen. Nach einer Annahme der Initiative hätten 300 000 bis 400 000 Menschen, vor allem Italiener*innen, die Schweiz verlassen müssen. Am 7. Juni 1970 lehnten die Schweizer Stimmbürger – das Frauenstimmrecht trat 1971 in Kraft – die Schwarzenbach-Initiative schliesslich mit rund 54 Prozent ab.

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