Foto: Yvonne Einerhand, unsplash.com

Balkon der Existenz

Kolumne «Adieu» von Agnell Rickenmann

Einsamkeit ist kein modernes Phänomen, aber es schlägt heute zu in einer Zeit, in der wir unzählige Möglichkeiten hätten, einander auf verschiedenste Weise zu begegnen. Dennoch geraten gerade auch jüngere Menschen zunehmend in die Spirale der Vereinsamung, weil wir es offensichtlich verlernt haben, einander zu «begegnen».

Ein französischer Schriftsteller meinte vor noch nicht so vielen Jahren: «Die Tragödie des heutigen Menschen ist die, dass er nur noch auf dem Balkon seiner Existenz wohnt». Mir scheint dieses Bild eine ausgezeichnete Chiffre zu sein für das, was heute leider oft passiert: Wir sind nicht mehr bei uns selbst – in unserer eigenen Wohnung – zuhause, sondern fliehen nach aussen, eben auf den Balkon unserer Existenz, weil wir es nicht mit uns selbst aushalten. Wir gehen aber auch nicht auf die Strasse, sondern schauen von unserem Balkon sozusagen als Beobachter/-innen unbeteiligt von oben zu, während das Leben unten an uns vorbeiläuft.

Im innersten «Bei-Sich-Selbst-Sein», sagt der Kirchenlehrer Augustinus, werden wir auch Gott finden. Denn noch weiter drin als in unserem «Selbst», also unserem «Bei-Uns-Selbst-Sein», gleichsam zuhause in unserer Wohnung, da wartet Gott längst auf uns – auch wenn wir auf dem Balkon stehen bleiben. Er klopft und schreit durch unsere Balkontür, doch wir sind damit beschäftigt, dem Treiben auf der Strasse zuzuschauen.

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