Start zum Solilauf für Sans-Papiers auf dem Berner Münsterplatz. Foto: Beratungsstelle für Sans-Papiers

«Zum Glück hatte ich viel Sonne im Kopf»

Wenn Menschen keine Papiere haben.

Tausende Sans-Papiers leben in ständiger Angst in der Schweiz, im Schatten der Gesellschaft. Seit 17 Jahren setzt sich eine ­Beratungsstelle in Bern für ihre Anliegen ein, getragen auch von einem kirchlichen Netzwerk, mitfinanziert von der Katholischen Kirche Region Bern.  

Karl Johannes Rechsteiner 

«Du kannst kein Konto eröffnen, keinen Mietvertrag abschliessen, kein Handy-Abo lösen und allein keine Krankenkasse abschliessen, Weiterbildung oder Ausland­reisen sind unmöglich», schildert Shirley Escobar die Lage als Sans-Papiers. 14 Jahre lebte sie ohne Aufenthaltsbewilligung in Bern. Keinen Vertrag im eigenen Namen und Schwarzarbeit sind das eine – das andere die Angst vor der Polizei. Denn eine Kontrolle könnte die Ausschaffung auslösen. 

«Ich habe in der Wohnung die Storen runtergelassen, die Türe nicht geöffnet, wenn jemand klingelte», beschreibt ­Shirley Escobar die jahrelange Angst. Ruhig bleiben, nicht sichtbar, heisst die Devise. Wer hält das aus? «Viele Kollegen werden krank und depressiv», weiss Shirley Escobar: «Zum Glück hatte ich viel Sonne im Kopf», staunt sie selbst über ihre Lebenskraft in dieser belastenden Situation. Per Zufall fand sie via Cousine einen Job als Reinigungskraft – versteckt arbeitete sie 14 Jahre in dieser Branche, zum Beispiel in einer Familie mit Verständnis für ihre Lage. 

Kampf für Menschen­rechte 

Shirley hörte schon früh von ­einem Bekannten, dass es auch als Sans-Papiers möglich sei eine Krankenkasse abzuschliessen. Sie verschaffte sich den entsprechenden Kontakt, nahm allen Mut zusammen, wählte die Nummer und fragte nach einem Termin. «Mein Bekannter hatte riesige Angst, doch ich bin hingegangen.» So kam sie in Kontakt mit der Fachstelle Sozial­arbeit der Katholischen Kirche Region Bern und konnte bereits 1998 eine Krankenkasse abschliessen. Sobald die Beratungsstelle für Sans-Papiers gegründet wurde, bekam sie von der katholischen Sozialarbeiterin die Kontaktadresse und besuchte das neue Büro. Es folgtenunzählige Gespräche, immer öfter auch in Begleitung weiterer Sans-Papiers. 

Heute führt Shirley Escobar ein anderes Leben. Unterstützt von der Berner Beratungsstelle für Sans-Papiers schaffte sie es Schritt für Schritt aus der Illegalität. 2010 wurde ihr Härtefall­gesuch bewilligt, das die Beratungsstelle eingereicht hatte. Seither besitzt sie eine Aufenthaltsbewilligung, «und sogar eine eigene AHV-Nummer», stellt sie fest. Nach jahrelanger Freiwilligenarbeit ist sie seit zwei Jahren im Team der Berner Beratungsstelle angestellt für Beratung, Vernetzung und Administration. Nun kann sie anderen Personen ohne geregelten Aufenthalt helfen, Kontakte vermitteln, Rat geben bei Krankheiten, Einkauf von Lebensmitteln, ­Umgang mit Formularen und um andere Alltagsprobleme zu lösen. Dank ihren Erfahrungen findet sie guten Zugang zu heutigen Betroffenen etwa aus Kolumbien, Chile, Venezuela oder Honduras. 

Spenden und Freiwillige helfen 

Die Berner Beratungsstelle für Sans-Papiers ist als Verein organisiert. Das fünfköpfige Team und viele Freiwillige leistet pro Jahr über 2000 Beratungen und Begleitungen für Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung. Das Jahresbudget einer halben Million Franken wurde in der Corona-Zeit aufgestockt, um Überbrückungshilfe für Sans-Papiers leisten zu können, die während der Pandemie ihre Arbeit ver­loren und keinen Zugang zu staatlicher Unterstützung hatten. ­Finanziert wird der Betrieb durch Spenden aus dem kirchlichen Netz, das die Beratungsstelle einst initiiert hat und heute weiterträgt. Dutzende von Kirchgemeinden und Pfarreien, die Stadt Bern und Sozialwerke tragen als Mitglieder oder durch Beiträge diese Tätigkeit. Sponsoraktionen wie ein jährlicher Soli-Lauf, private Spenden und Stiftungen bringen ebenfalls wichtige Summen ein. 

Nachdem die Landeskirchen und Jüdischen Gemeinden in Bern eine Humanisierung des Alltags für Sans-Papiers gefordert hatten, entstand 2005 die Beratungsstelle. Wie damals setzt sich der Verein auch heute für die Verbesserung der sozialen und rechtlichen Situation der Sans-Papiers ein. «Ihre Situation wird immer schwieriger», weiss Karin Jenni, Co-Leiterin der Beratungsstelle: «Wer nicht aus der EU kommt, hochqualifiziert ist oder Asyl erhält, hat fast keine Chance eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten.» Und Shirley Escobar ergänzt: «Die Schweiz war für mich ein Paradies – aber gleichzeitig ein Gefängnis voller Angst.» 

www.sanspapiersbern.ch

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