«To be a Jew is to remember», betont Elie Wiesel: «Jude zu sein, bedeutet, sich zu erinnern.» Geschichte, Verfolgung, Sklaverei, Auszug, Shoa, Exil, Befreiung, Rückkehr… sind nur Wörter. Sie beginnen sich erst aus persönlicher und kollektiver Erinnerung und vielen erinnerten Erzählungen zu füllen. Wenn Gesichter und Namen, Geburtsdaten und Todesorte, Fotos, Postkarten, alte Texte, Zeugnisse… angeschaut, gelesen, weitergegeben werden.
Leider reichen Vergessen, Verdrängen und «Verlügen» mit ihrer vergiftenden Macht bis in unser eigenes alltägliches Sprechen und Handeln hinein. Sooft die verführerische Rede davon, dass man doch endlich vergessen müsse, allzu billiges Vergeben und die omnipräsenten Verschiebungen laut werden, indem Menschenrechte vorenthalten und den Allerletzten auch noch ihre Lage als Schuld zugerechnet wird, sooft ist – Jahr um Jahr – die jüdische Weisheit auszusprechen: «Das Vergessenwollen verlängert das Exil – das Geheimnis der Erlösung lautet Erinnerung.»
Ein wunderschönes Beispiel einer Kultur des Erinnerns fand Oktober 2021 im badischen Freiburg statt. Auf dem Platz der Alten Synagoge, dort, wo seit 2017 ein Wasserspiegel den Grundriss der 1938 in der Reichspogromnacht zerstörten Synagoge abbildet. – Viele Menschen folgten dem Aufruf, für die 349 allein aus Freiburg am 22. Oktober 1940 ins Lager Gurs deportierten Frauen und Männer, Jugendlichen und Kinder stehenzubleiben und eine Rose abzulegen. Viele verharrten dort in Stille 349 Sekunden lang. Am Rand war die Litanei der Entwürdigten zu lesen, die im Rahmen des Projektes «Erinnern und Begegnen» bekannt wurde, welches 1998 vom Bund der deutschen katholischen Jugend und dem erzbischöflichen Jugendamt gegründet wurde.
«Erinnern und Begegnen» könnte einer Überschrift der Bibel sein. Könnte Leitwort kirchlichen Tuns in allen seinen Dimensionen sein. Könnte wieder die vielen alten und neuen und vielfach ganz persönlichen Erzählungen von Befreiung ans Licht holen, hervorholen unter den dogmatischen Verdrängungen und Verschiebungen, wie etwa das: Dass die Texte des Zweiten Testaments Erinnerungen von Juden an den Juden Jesus und dessen befreiende Praxis sind. Subversive Erinnerung, die heute nottut. An Begegnungen, die befreien.
Verführerische Sprache und beredte Stille
Fake News, Verschwörungsglauben und rechtes Gedankengut, neoliberaler Glaube und der Kapitalismus als Religion mit gnadenloser Verschuldung von Menschen sind Beispiele, wie verführerisch und lügenmächtig Sprache sein kann.
Jedoch ist der an jedem ersten Montag vor dem Hauptbahnhof Biel stattfindende Stillekreis ein starkes Erinnern: An die Geflüchteten, die vielen Vergessenen, für eine menschenwürdige Migrationspolitik, für Aufnahme von Menschen unter uns. Das soll unter uns zählen. In der Litanei der Entwürdigten lautet ein Satz: «Ihr, die ihr uns mit eurer Kultur und eurem Wissen beschenkt habt: Wir werden euch nicht vergessen.»
Peter Bernd
Stillekreis
für eine menschliche Flüchtlingspolitik:
Jeden ersten Montag im Monat
um 18.00-18.30 Uhr auf dem Platz
vor dem Hauptbahnhof Biel/Bienne.
Nächstes Mal: 7. Februar
Einfach dabei sein beim «stillen» Engagement!