Gerad Hauck und Edem Togbetse vor dem Kirchgemeindehaus St. Marien (Foto: Isabelle Flury)

Eine sinnvolle Wegzehrung auf der Reise ins Ungewisse

Der Mittagstisch in St. Marien Bern

Knapp 20 Jahre ist es her, dass vier Frauen genug hatten vom Zuschauen: «Wir müssen etwas tun!» beschlossen sie. Es war eine Zeit, als tausende abgewiesene Asylsuchende und Sans Papiers die Schweiz vor grosse Herausforderungen stellten. Die Zeit des «Nichteintretens-Bescheids», die Zeit, als die Not dieser Menschen unübersehbar wurde. So riefen Christianne, Francine, Magdalena und Gabriela den «Mittagstisch» ins Leben.

Von Isabelle Flury

Seither treffen sich jeden Donnerstag dutzende Menschen in prekärer Lebenssituation – insbesondere abgewiesene Asylsuchende und Sans Papiers – am Mittagstisch. 2011 haben die vier Frauen aus ihrer Initiative den «Verein Oekumenischer Mittagstisch für Asylsuchende Bern» gegründet, den die Katholische Kirche Bern finanziell unterstützt und ihm kostenlos Räumlichkeiten auf dem Kirchengelände St. Marien in Bern zur Verfügung stellt. Neben einem gesunden Mittagessen pro Woche erhalten die Menschen durch den Verein in Zusammenarbeit mit der Fachstelle Sozialarbeit der Kath. Kirche Region Bern und dem Solinetz Bern auch Beratung und Unterstützung für ihren Alltag.

Heute treffe ich die 79-jährige Vereinspräsidentin Gerda Hauck und Edem Togbetse aus Togo, der 2007 erstmals am Mittagstisch teilnahm und seit 2008 Donnerstag für Donnerstag als Koch und inzwischen auch als Küchenchef und «Tätschmeister» waltet. Denn mich interessieren die Menschen, die hinter den vielen Projekten stehen, die die Katholische Kirche Bern unterstützt.

«Es geht um Austausch.»

Es ist knapp vor 12 Uhr. Unter den grossen Bäumen im Kirchenhof St. Marien stehen eine Fassstrasse und unzählige Tische. Dutzende Menschen unterhalten sich in unterschiedlichen Sprachen. Ein orientalischer Essensduft verspricht Lukullisches. Die Stimmung ist gelöst – alle freuen sich auf das bevorstehende Essen. «Aber es geht hier nicht in erster Linie um das Essen» sagt Gerda Hauck «es geht um den Austausch, um die gegenseitige Unterstützung. Und darum, dass viele dieser Menschen jahrelang in Rückkehrzentren leben und kaum die Möglichkeit haben, diese zu verlassen. Unser Mittagstisch ist eine Gelegenheit, der Enge und Trostlosigkeit zu entfliehen – ein Farbtupfer im Leben dieser Menschen».

Dazu kommt: Abgewiesene Asylbewerbende dürfen weder Deutsch lernen noch arbeiten. Gerade für die Männer ist das ein grosses Problem. In ihren Herkunftsländern sind sie traditionellerweise Familienoberhaupt und Ernährer. Hier sind sie Bittsteller und zur Untätigkeit gezwungen. Indem sie am Mittagstisch nicht nur teilnehmen, sondern auch mitarbeiten können, holen sie sich ein Stück Stolz und Unabhängigkeit zurück. «Das macht einen grossen Unterschied», stimmt Edem zu. Er erinnert sich genau an den Tag im April 2008, als er erstmals für den Mittagstisch gekocht hat. «Endlich konnte ich wieder etwas Sinnvolles tun. Das hat mich extrem motiviert. Bald stellte ich auch die Menues zusammen, machte die Bestellungen und war für das Budget zuständig. Ich fühlte mich wieder wie ein Mensch.» Edem gehört zu den wenigen, die es geschafft haben. Vor 5 Jahren hat er das Aufenthaltsrecht bekommen und darf nun offiziell in der Schweiz leben und arbeiten. Er ist Sakristan und macht Caterings. Für viele andere ist die Schweiz eine Sackgasse, aus der sie nicht mehr herauskommen. Hierbleiben dürfen sie nicht, zurück können sie nicht. Seit Jahren sind sie im Niemandsland ihres Rückkehrzentrums gefangen, zermürbt und oft psychisch angeschlagen – die Suizidrate unter ihnen ist extrem hoch. Für sie ist der Mittagstisch besonders wertvoll.

Ein Gefühl der Beklemmung und Ohnmacht

Die Rückkehrzentren sind in den 2000-er Jahren entstanden. Damals war man überzeugt, dass die abgewiesenen Asylbewerbenden schnell wieder gehen, wenn man ihnen Rückkehrhilfe anbietet und die Rückkehrzentren so unattraktiv wie möglich gestaltet. Inzwischen belegen Langzeituntersuchungen, dass das nicht stimmt. Die meisten bleiben und landen in der Langzeitnothilfe. Das heisst: Unterbringung im Zentrum, nicht arbeiten, sich nicht integrieren, mit 10.- pro Tag leben. Ich versuche mir diese Realität vorzustellen. Ein Gefühl der Beklemmung und Ohnmacht steigt in mir auf und schnürt mir die Kehle zu.

Während Gerda mir vom Mittagstisch und den Schicksalen erzählt, die sie miterlebt, gehen wir von Tisch zu Tisch. Sie begrüsst die Menschen, wechselt ein paar Worte und man spürt, wie sehr sie von allen geschätzt wird. Sie strahlt eine unglaubliche Vitalität und Freude aus – kaum zu glauben, dass sie fast 80 Jahre alt ist. Wird sie nie müde? Lässt sie die Ohnmacht angesichts des Leids, das sie erlebt, nicht verzweifeln?

«Ich bin empört!»

Wir setzen uns hin. «Du könntest längst im Ruhestand sein. Was treibt dich an?» «Gute Frage. Ich bin empört und möchte diesen Menschen helfen. Dabei frage ich mich, was eine sinnvolle Wegzehrung auf ihrer Reise in die Ungewissheit ist. Denn meine Hilfe ist beschränkt. Ich kann Leid lindern, diesen Menschen eben eine Wegzehrumg mitgeben, aber ihre Probleme kann ich nicht lösen. Das ist für mich manchmal schwer zu ertragen.» Sie seufzt. «Weisst du, ich habe viele schwierige Situationen erlebt. In der Nachkriegszeit in Deutschland, später in den Kircheninstitutionen und –projekten, in denen ich gearbeitet habe. Aber das waren meist Probleme, die man lösen konnte, wenn man wollte. Und ich wollte. Und ich dachte, das mache mich stark, denn ich konnte viel bewegen. Doch was ich hier erlebe, ist anders. Hier werde ich mit einer Ohnmacht konfrontiert, die mich manchmal fast aus der Bahn wirft.»

Da wären wir also. Bei der Ohnmacht. Auch Gerda ist nicht ganz gefeit davor. «Trotzdem strahlst du und gibst nicht auf. Wie machst du das?» Nachdenklich schaut sie mich an. «Akzeptanz. Ich lerne gerade, zu akzeptieren, was ich nicht ändern kann und dabei trotzdem mit ganzem Herzen zu tun, was ich tun kann. Ich lerne, keine Verantwortung mehr zu übernehmen, die ich nicht übernehmen kann. Ich lerne, mit meinen Grenzen Frieden zu schliessen. Das ist ein grosses Geschenk, das mir diese Menschen hier machen.» Wir schweigen lange. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass das, was man akzeptiert, die Macht über einen verliert. Jetzt begreife ich, was damit gemeint ist. Und warum Gerda trotz allem strahlt. Und ich merke, wie sehr mich die Begegnung mit ihr gerade berührt.

«Was ist dir wichtig im Leben?»

Dann kommt Edem zurück und setzt sich kurz zu uns an den Tisch. Ich muss bald aufbrechen und stelle ihm eine letzte Frage: «Was ist dir wichtig im Leben?» Ohne nachzudenken sagt er «Gesundheit und ‘se mettre en valeur’ – mit dem, was man ist und was man hat, etwas Sinnvolles tun». Und Sinn sei für jeden etwas anderes. Das habe er in der Schweiz gelernt. Für ihn als Flüchtling sei es schwer zu verstehen, dass sich Schweizer das Leben nehmen. Aus seiner Sicht haben wir alles, was das Leben lebenswert macht. Aber wir kämen halt von einer anderen Seite des Lebens und hätten wohl eine andere Sicht auf die Dinge. Er für seinen Teil sei absolut glücklich, denn für ihn sei sein Leben hier wahnsinnig wertvoll und lebenswert. Mehr brauche er nicht. Dann ruft ihn eine junge Frau aus Tibet in die Küche. Sie lebt mit ihrer Familie in einem Rückkehrzentrum in der Region Bern und kann nicht mehr zurück in ihre Heimat. Der Familie fehlen die Papiere. Und die werden sie von der chinesichen Regierung auch nicht bekommen.

 

Wie kann ich helfen?

Der Oekumenische Verein Mittagstisch für Asylsuchende mit Nothilfe und Sans Papiers ist über die Unterstützung durch die Katholische Kirche Bern auf Grund der aktuen Situation dringend auf Spenden angewiesen. Vielen Dank für Ihre Hilfe:

Oekumenischer Verein Mittagstisch für Asylsuchende mit Nothilfe und Sans Papiers

3014 Bern

IBAN: CH2O 0900 0000 1504 4814 4

Diese Website nutzt Cookies. Durch die weitere Nutzung der Site stimmen Sie deren Verwendung zu und akzeptieren unsere Datenschutzrichtlinien.