Herr Renold Blank, gibt es eine Textstelle im Zweiten Testament, welche Sie besonders anspricht?
Renold Blank: Diese Stelle im Matthäusevangelium über den Sämann: Er ging aus um zu säen und als er säte, fiel ein Teil unter die Dornen, ein Teil fiel auf steinigen Grund, einiges auf gutes Erdreich usw. Das Gleichnis beschreibt einen schlechten Sämann, er sät kreuz und quer ohne auf den Boden zu achten. Nur einiges fällt auf guten Grund. Das finde ich sehr tröstlich für uns Menschen, die von Gott dazu berufen sind, sein Wort zu säen. Denn wenn ich mein eigenes Leben betrachte, dann stelle ich fest, ich bin eigentlich auch ein solch schlechter Sämann. Trotzdem darf ich die Hoffnung haben, dass einiges auf guten Boden fällt und die Saat aufgehen kann.
Als Theologe beschäftigen Sie sich wissenschaftlich mit der Bibel. Können Sie da noch einen Text auf sich wirken lassen?
Es ist grundsätzlich die Problematik des heutigen Bibellesens, dass wir sofort versuchen, einen Bibeltext in seinen Kontext zu stellen und seine historische Grundlage zu verstehen. Von Basisgemeinden in Brasilien habe ich gelernt, vom wissenschaftlichen Ballast etwas Abstand zu gewinnen und die Bibel aus einer neuen Perspektive zu lesen. Nämlich: Was sagt dieser Text mir, heute, in der jetzigen Situation? Mit dieser Erfahrung ist es mir möglich geworden, einerseits als Bibelwissenschaftler einen Text systematisch zu analysieren und andererseits wahrzunehmen, dass Gott jetzt zu mir spricht. Wir alle, welche die Bibel lesen, müssen diese Texte mit dem ganz konkreten Bezug zu unserem Leben entdecken lernen.
Das "Bibel-Teilen" ist eine solche Methode des Bibellesens, welche keine theologischen Vorkenntnisse bedingt. Sie finden einen solchen Zugang also sinnvoll?
Wir müssen sogar uns auf diese Weise mit der Bibel befassen. Denn sonst besteht die Gefahr, dass die Bibeltexte vom jetzigen Leben getrennt bleiben. Als Folge fragen wir beim Lesen zuerst, wie hat Gott zur damaligen Zeit zum Volk gesprochen und was hat dies seinerzeit für die Menschen wohl bedeutet? Dadurch geht vergessen: Die biblischen Texte sind Gottes Wort für die Zeit, in der sich die Leser und Leserinnen gerade aktuell befinden. Sie sind Gottes Wort an uns als Antwort auf eine konkrete Situation von heute.
Aber die Bibeltexte wurden in einem bestimmten kulturellen Kontext verfasst. Dies kann nicht negiert werden?
Dies stelle ich auch nicht in Abrede. Wir haben aber in den letzten Jahrzehnten so viel Gewicht auf das historische Verständnis gelegt, dass die Bedeutung dieser Texte für die Gegenwart vergessen ging. Ein anderes Beispiel legt, dass die Bedeutung dieser Texte für die Gegenwart vergessen ging. Ein anderes Beispiel: Wallfahrende nach Jerusalem sind sehr ergriffen darüber, dass sie an diesem Ort sind , wo sich Gott einst manifestiert hat. Aber gleichzeitig gilt: Dieser Gott manifestiert sich auch jetzt und hier in Biel. Ich kann Gott nicht nur in Jerusalem sondern auch in meinem Lebensumfeld begegnen.
Beim "Bibel-Teilen" können unterschiedliche Textverständnisse entstehen. Gibt es Kriterien, welche naheliegender sind?
Ein Grundkriterium ist das Lehramt der Kirche und seine Verlautbarungen zu bestimmten Fragenstellungen. Die wissenschaftliche Bibelexegese und ihre Erkenntnisse zur historischen Bedeutung der Texte sind ein weiterer Massstab. Als drittes Kriterium möchte ich den Glaubenssinn des Volkes betonen: Er befähigt dazu in der gemeinsamen Diskussion die Bedeutung der biblischen Schriften für heute zu entdecken. An diesen drei Polen sollte sich das Bibellesen orientieren.
Eine verbreitete Meinung lautet: Mit Bibelzitaten lässt sich jedes Gottesverständnis belegen. Wir begegnen in der Bibel sowohl dem strafenden wie dem liebenden Gott. Können Gott wahllos alle Eigenschaften zugeschrieben werden?
Nein. Wer ein Gottesbild in der Bibel zitiert, muss sich bewusst werden in welcher Zeitepoche der Text entstanden ist. Es existiert in der Bibel kein fixer Entwurf von Gott, welcher von Anbeginn gilt. Wir können hingegen einen tausendjährigen Prozess feststellen, in welchem sich zunehmend klärt, wie Gott ist. Hier helfen die Erkenntnisse der Bibelexegese weiter, welche nachweisen kann, dass das Bild des strafenden, Angst einflössenden Gottes in einer Zeit entstanden ist, die geprägt war von kriegerischen Auseinandersetzungen. Im Verlauf der Jahrhunderte entwickelte sich dann eine andere Sicht, Gott zu verstehen, immer stärker. Schritt für Schritt entsteht das Verständnis eines Gottes, der es gut meint mit den Menschen, dessen Sorge es ist, dass sie ein Leben in Fülle haben. Der Höhepunkt ist Jesus Christus, der sich als liebender Gott offenbart.
Eine zentrale Botschaft von Jesus ist das anbrechende "Reich Gottes". Was ist unter diesem abstrakten Begriff zu verstehen?
Das Reich Gottes wird schon im Ersten Testament thematisiert. Bereits die Propheten sprechen von der Herrschaft Gottes und verstehen darunter: Der geschichtliche Prozess der Weltgeschichte führt auf ein Ziel hin, welches Gott mit seiner Schöpfung erreichen möchte. Dieses Ziel besteht in einer Situation, in der die Kriterien Gottes im menschlichen Zusammenleben realisiert werden. Von diesem Ideal ist die Welt noch weit entfernt, doch die Geschichte läuft darauf zu. Die Menschen sind dabei berufen am Aufbau des Gottesreiches mitzuarbeiten.
Aber wie zeichnet sich dieses Reich Gottes nun konkret aus?
Im Buch Daniel wird das Reich Gottes als Alternative beschrieben zu einer Situation, in der überall nur Verfolgung und Unterdrückung herrscht. Es ist ein Reich, in der die Menschen in Freiheit und gemeinsamer Solidarität leben. Jesus Christus setzt diesen Gedanken fort. Bei ihm heisst es: Das Gottesreich hat bereits begonnen. Wie ein Samenkorn, das bereits in die Erde gelegt wurde und sich langsam entwickelt. Mit dem Wort von Jesus Christus: "Komm und folge mir noch" wird der Gedanke wieder aufgenommen, dass die Menschen berufen sind an der Ausbreitung dieses Gottesreiches mitzuarbeiten und im Zusammenleben zu realisieren. Diese Entwicklung geht weiter bis zur Vollendung, welche ein Werk Gottes sein wird.
Noch immer gibt es auf dieser Welt zum Himmel schreiende Ungerechtigkeiten. Besonders weit haben wir Christen es mit dem Gottes Reich noch nicht gebracht?
Das ist eine Frage der Perspektive. Ich bin aber optimistisch, denn wir haben schon einiges erreicht. Noch vor 300 Jahren wurde Folter auch im christlichen Raum angewendet, Sklaverei wurde bis ins 19. Jahrhundert betriebe. Heute ist allen klar, dass dies nicht dem entspricht, wie Gott sich das zwischenmenschliche Verhalten vorstellt. Je ungeduldiger Christen sind, umso besser, denn umso mehr werden sie sich für Veränderungen einsetzen.
Was für Veränderungen?
Wichtig ist das Wachsen des Bewusstseins, dass die christliche Religion keine individuelle Angelegenheit ist, in der alle für sich ihr geistiges Wohlfühlsein anstreben. Die eigentliche zentrale Aufgabe der Christen besteht in der Mitarbeit an der Veränderung dieser Welt. Jene politisch-sozialen Strukturen, die nicht dem Gottes Reich entsprechen, müssen wir verändern. Diese Tatsache wurde über Jahrhunderte in den Hintergrund gedrängt und wird heute zunehmend wieder wahrgenommen.
Was erfüllt Sie mit dieser Zuversicht, dass der Sämann nicht alle Samen auf steinigen Boden gestreut hat?
Da haben wir nur die Glaubenszuversicht: Wenn Gott sich das Ziel gesetzt hat, eine Welt des menschlichen Zusammenlebens in Liebe, Geschwisterlichkeit und Gerechtigkeit zu schaffen, dann werden wir es auch erreichen. Diese Hoffnung hat eine zweite Basis in den Worten und Taten von Jesus Christus. Er hat das Reich Gottes mit einem wachsenden Senfkorn verglichen, das zu einem Baum wächst. Letzte Garantie für die Hoffnung, dass sich das Reich Gottes ausbreiten wird, ist die Auferweckung des gekreuzigten Jesus.
Interview: Nikklaus Baschung