Janine Kosch. Foto: Georges Scherrer/kath.ch

«Der Mensch ist mehr als seine Krankheit»

Sterben braucht Zeit, sagt Janine Kosch. Sie leitet die Fachstelle Palliative Care der Schweizer Bischofskonferenz.

Sterben braucht Zeit, sagt Janine Kosch. Sie leitet die Fachstelle Palliative Care der Schweizer Bischofskonferenz. Im Interview erläutert sie die Rolle der Kirchen in der Diskussion um Palliative Care.

Interview: Sylvia Stam

In drei Sätzen: Was ist Palliative Care?

Janine Kosch: Palliative Care meint die fürsorgende Begleitung für das Wohlergehen eines kranken Menschen bis zu seinem Tod. Palliative Care legt sozusagen einen schützenden Mantel (lateinisch pallium) um eine kranke Person. Ein wichtiges Ziel von Palliative Care ist es, den Menschen die Angst vor dem Sterben zu nehmen.

Wie kann man den Menschen die Angst vor dem Sterben nehmen?

Palliative Care geht von einem ganzheitlichen Menschenbild aus. Wenn ich mich darauf verlassen kann, dass nicht nur mein Körper umsorgt wird, sondern dass ich als ganzer Mensch da sein darf mit meinen spirituellen Fragen, mit meinen physischen Nöten, dass mein Umfeld mit einbezogen wird, dann kann das die Angst vor dem Sterben verringern.

Viele Menschen fürchten sich vor der Vorstellung, von anderen abhängig zu sein, weil sie zum Beispiel Windeln tragen müssen. Wie begegnet Palliativ Care solcher Angst?

Wichtig scheint mir, dass der Mensch ausdrücken kann: Ich will nicht, dass ich wie ein Säugling behandelt werde. Dann gilt es zu fragen: Wie kann man adäquat auf die Situation reagieren und gleichzeitig die Würde der Person bewahren? Was braucht die Person, damit sie ihre Würde bewahren kann? Lässt sich das Problem vielleicht mit einem Katheter lösen? Können wir die Situation humoristisch auffangen? Hier zeigt sich der eigentliche Kern des Problems: Es braucht Zeit, über all diese Dinge zu sprechen.

Ein rares Gut in heutigen Spitälern.

Ja, Sterben braucht Zeit, ebenso der Umgang mit Schmerzen und Krankheit. Und Zeit ist mit Kosten verbunden. In unserem Gesundheitssystem sind zwar die Kosten für Hotellerie und Pflege gedeckt, nicht jedoch jene für eine solche Begleitung. Diese belaufen sich in der Stadt Zürich auf 250 bis 350 Franken pro Tag.

Was für Lösungen sehen Sie?

Da sind wir alle gefordert, nicht zuletzt die Politik. Auch die Kirchen können hier einen Beitrag leisten. Das St. Galler Kirchenparlament hat kürzlich beschlossen, drei Hospize finanziell zu unterstützen. Was aber tun wir, wenn die Kirchen die nötigen Mittel dazu nicht mehr haben?

Der Vatikan hat ein Weissbuch zur Förderung von Palliative Care veröffentlicht. Im Vorwort schreibt Erzbischof Vincenzo Paglia: «Auch wenn wir nicht heilen können, so können wir doch das Leiden lindern und uns um den Menschen kümmern.» Ein sehr schönes Ideal, doch die Realität in Spitälern sieht anders aus. Was kann ein kirchliches Buch da bewirken?

Es geht um Sensibilisierung. Die Kirche darf ruhig gegen den Strom schwimmen und sagen: Ja, der Mensch braucht Zeit. Der Mensch ist keine Maschine. Und der Mensch ist auch mehr als seine Krankheit.

Halten Sie es für realistisch, dass ein solches Denken in unserer Gesellschaft Platz findet?

Die Zunahme der Mitglieder von Exit zeigt, dass die Menschen Angst haben vor einem mechanisierten Sterben. Es besteht ein grosses Bedürfnis, in Anbetracht der Endlichkeit und der Grenzen des Lebens nicht nur die medizinischen Fragen zu besprechen, sondern auch die spirituellen und ethischen. Wenn ein kranker Mensch das Gefühl hat, dass er in seiner Ganzheit mit seinem körperlichen Leiden, mit seinen seelischen und spirituellen Bedürfnissen wahrgenommen wird, dann verstummt der Wunsch nach Selbstbestimmung im Sinne von Suizidbegleitung. Der Ausdruck «das Zeitliche segnen» bringt es schön auf den Punkt. Die Zeit, die ich gehabt habe, zu segnen, bedeutet, ihr einen Wert zu geben.

Sie sprechen damit die spirituellen Bedürfnisse von Kranken an. Der Vatikan fordert in seinem Weissbuch, dass angehende Mediziner auch im Bereich Spiritual Care* geschult werden sollen. Ist das in Zeiten zunehmender Säkularisierung noch zeitgemäss?

Spiritual Care ist nicht konfessionell gebunden. Die Seelsorge am kranken Menschen ist zudem ein interdisziplinäres Thema. Da geht es um Faktoren wie Identität, Werte, Sinn oder Transzendenz. Wenn eine Ärztin bei einem Patienten merkt, dass es eine Dimension gibt, die helfen könnte, dem Menschen zu mehr Wohlbefinden zu verhelfen, dann ist es an ihr zu fragen, ob der Patient mit einer Seelsorgerin oder einer anderen Fachperson sprechen möchte.

Es geht also um eine spirituelle Dimension, die nicht an eine Religion gebunden ist.

Ja. Natürlich ist die kirchliche Seelsorge für viele Menschen wichtig. Aber Spiritual Care ist nicht nur für kirchlich sozialisierte Menschen. Auch Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, können spirituelle Bedürfnisse haben. Hier braucht das Pflegepersonal ein Sensorium dafür, ob die kranke Person nun eine Seelsorgerin der Landeskirche braucht oder einen Psychologen. Aus diesem Grund gibt es an der Universität Zürich einen Lehrstuhl für Spiritual Care. Bezeichnenderweise besuchen mehr Mediziner als Theologen diese Vorlesung. Angehende Medizinerinnen und Mediziner realisieren, dass ihnen hier Wissen fehlt.

Gibt es Orte, wo solche interdisziplinären Teams schon Realität sind?

Ja, auf Palliativstationen und in Hospizen gibt es solche interdisziplinären Teams. Jede und jeder kommt mit seiner Kernkompetenz ins Team und bespricht die Situation eines kranken Menschen in seiner Ganzheit.

Die Schweizer Bischöfe haben eine eigene Fachstelle zum Thema Spiritual Care eingerichtet (siehe Infobox). Warum ist dieses Thema der Kirche so wichtig?

Es geht letztlich darum, das Thema Endlichkeit in der Gesellschaft salonfähig zu machen. Wir müssen über unsere Grenzen und schliesslich auch über unser Sterben sprechen. Wir müssen über das sprechen, wovor wir Angst haben. Heutzutage kommt der Tod im Leben der Menschen kaum noch vor. Er wurde in Hospize oder in Pflegestationen abgeschoben. Es ist eine Aufgabe der Kirche, wirklich für die Menschen da zu sein und zu sagen: Wir begleiten euch auch auf diesem letzten Weg.

 


Hinweis:
«Ich war krank und ihr habt mich besucht». Krankenpastoral vor Ort. Alte Berufung und neue Herausforderung für die Kirche. Eine Tagung der Pastoralkommission der Schweizer Bischofskonferenz. 9. November, Universität Freiburg. Flyer

 

*Spiritual Care und Seelsorge: Spiritual Care bezeichnet innerhalb der umfassenden Palliative Care den Teilbereich der Sorge um die spirituellen Bedürfnisse eines kranken Menschen. Im Idealfall ist Spiritual Care interprofessionell: Alle in der Palliative Care tätigen Fachpersonen sind geschult in der Wahrnehmung spiritueller Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten und verfügen über das nötige Wissen, allenfalls Fachpersonen aus der Seelsorge beizuziehen. Seelsorge wird als spezialisierte Spiritual Care verstanden. Die spirituell-religiöse Begleitung kranker Menschen ist Aufgabe von Fachpersonen aus Seelsorge und Theologie.


Mehr zum Thema:

Gott und die Welt neu sehen lernen, Interview zum Thema Spiritual Care mit Prof. Dr. Isabelle Noth, «pfarrblatt» Nr. 9/2019

Fachstelle Spiritual Care der Schweizer Bischofskonferenz

Janine Kosch leitet in einem 40 Prozent-Pensum die Fachstelle Palliative Care der Schweizer Bischofskonferenz. Ihr zur Seite steht ein achtköpfiges Fachgremium mit Vertretern aus der Wissenschaft, der Bioethik-Kommission, Justitia et Pax, der Pastoralkommission und Spitalseelsorgenden. Aufgabe der Fachstelle ist einerseits die Analyse: Wo steht die Entwicklung im Bereich Palliative Care? Die Fachstelle berät die SBK in ihren strategischen Zielen: Wo soll die SBK ihre strategischen Ziele setzen in der Frage der Seelsorge im Gesundheitswesen? Weiter trägt die Fachstelle zur Vernetzung bei, um den kirchlichen Beitrag zur Palliative Care in der Schweiz zu stärken. Die Fachstelle berät die SBK auch in der Frage, wo die Kirche sich im politischen Diskurs um das würdige Altern und Sterben einbringen soll. Schliesslich informiert die Fachstelle, indem sie Tagungen durchführt oder mitgestaltet. (sys)

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