Kreativer Umgang mit sperrigen Texten: Silvia Schroer. Foto: bernerspurensuche.ch

Einsamkeit verhindern ist der eigentlich Sinn

Prof. Dr. Silvia Schroer, katholische Theologin, seit 1997 Professorin an der Theologischen Fakultät der Universität Bern, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema der gleichgeschlechtlichen Liebe in der Bibel. Sie plädiert dafür, die Bibel anders zu lesen.


«pfarrblatt»: Silvia Schroer, Sie haben schon 2002 an einer Tagung des Schweizerischen Katholischen Frauenbunds in Olten zum Thema «Unsittliches Tun oder anerkennenswerte Lebensform. Lesben, Schwule und Bisexuelle in Kirche und Gesellschaft» einen Vortrag gehalten. Warum interessiert Sie dieses Thema?
Silvia Schroer: Ich favorisiere jeden Schritt in Richtung einer Enttabuisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen, die auf Partnerschaft und Verbindlichkeit ausgerichtet sind. Der katholische Teil meiner selbst schämt sich für die Doppelmoral der katholischen Kirche, die seit je mit dem Finger auf Homosexuelle gezeigt hat, ihre Priester mit den Schwierigkeiten des Zölibats allein lässt, sie nach einem coming out wie heisse Kartoffeln fallen lässt, die aber alles, sogar Nötigung und Vergehen an Kindern, deckte, damit das Treiben ihrer Funktionäre nicht ans Tageslicht kam und vor allem, damit sie an den Grundfesten ihrer Moral und Dogmatik nichts zu verändern brauchte.

Sehen sie seit Ihrem Vortrag von 2002 Fortschritte?
Ich freue mich, dass unsere Gesellschaft zunehmend faire Rahmenbedingungen dafür schafft, damit alle Menschen ihre Veranlagungen und Talente verantwortlich leben können und wir uns immer seltener über Modelle privater Lebensgestaltung unterhalten müssen. Als Theologin setze ich mich dafür ein, dass christliche Gemeinden sich einerseits mit ihrem Anteil am kulturgeschichtlichen Erbe des Abendlands bzgl. Homosexualität kritisch auseinandersetzen und andererseits möglichst viele geschützte Räume für neue Formen von Lebensgemeinschaften öffnen.

Sie haben dazu aufgefordert, die Bibel auch zum Thema Homosexualität anders zu lesen. Warum?
Homoerotische Beziehungen sind in unserer Kultur nach wie vor stark tabuisiert, was zur Verdrängung entsprechender Wahrnehmungen führt, auch im Bereich der Exegese und der Lektüre biblischer Texte. Es geht darum, gesellschaftsideologisch bedingte Blackouts der Bibelwissenschaft aufzuzeigen und zu korrigieren, ähnlich wie es die feministische Exegese in Bezug auf androzentrische Exegese versucht. Solange unter Herbeiziehung biblischer Texte heutige Homosexuelle diskriminiert werden, ist es geradezu geboten, biblische Texte in die gesellschaftliche und kirchliche Gegenrede einzubinden.

Nun lancierte Bischof Huonder mit der steinbruchartigen Verwendung eines Bibelzitates die Diskussion neu. Das Zitat stammt aus dem Buch Levitikus: Einem Männlichen darfst du nicht beiwohnen, wie man einer Frau beiwohnt: ein Greuel wäre dies. (18,22)
Dazu gehört auch: Ein Mann, der einemMännlichen beiwohnt, wie man einer Frau beiwohnt: einen Greuel haben sie begangen; beide werden mit dem Tod bestraft; ihr Blut komme auf sie! (20,13). Man sollte die schrecklichen Geschichten in Genesis 19 und in Richter 19 als Hintergrundtexte kennen. Die Männer von Sodom und Gibea haben keine homosexuellen, eher schon homophobe Neigungen, sie wollen ihre Unterwerfungsgelüste sexuell ausagieren, wobei der grösste Machterweis in der Erniedrigung des anderen Mannes besteht.
Dass Fremde ein ideales Opfer solcher Gewalt sind, liegt nahe, da sie praktisch ungeschützt sind. Mit grosser Wahrscheinlichkeit richten sich auch die Gesetzesbestimmungen in Levitikus 18,22 und 20,13 mindestens ursprünglich gegen sexuelle Gewalt von freien israelitischen Männern an Männern, ob Freie, Sklaven oder Ausländer, wobei das Verbrechen ausdrücklich an dem Tatbestand des »wie man einer Frau beiwohnt «festgemacht wird.

Es geht also mehr um Unterdrückung und Machtmissbrauch. Gibt es eigentlich relevante Aussagen zu Homosexualität in der Zeit des Alten Testaments?
Nach Abzug der erwähnten, leider immer wieder in die Debatte um Homosexualität eingetragenen Texte, bleiben als biblische Quellen, die Aufschlüsse über Männerliebe im alten Israel geben könnten, nur die Saul-David- Jonatan-Erzählungen. Die Frage nach homosexuellen Veranlagungen und Beziehungen muss ausgeklammert werden, da die Texte darüber nicht sprechen. Wie viel und welche Art Sexualität »Homosexualität« ausmacht, ist genauso wenig signifikant wie die Frage nach dem typischen Sexualleben in einer langjährigen heterosexuellen Partnerschaft.
Nach den biblischen Texten hat die Freundschaft zwischen David und Jonatan erotische Aspekte. Ob sie sie historisch hatte, können wir nicht wissen. Dass die Erzähler sie so sahen, scheinen alle Indizien zusammengenommen aber nahezulegen. Mag sein, dass die Erotik in der Fiktion der Liebe zwischen David und Jonatan politisch gebraucht worden ist, aber sie war denkbar und sie wurde aus dem sehr facettenreichen überlieferten Davidbild nicht getilgt.

Wie war es in den Nachbarkulturen des biblischen Israels?
Alle uns verfügbaren Informationen über homoerotische Beziehungen in den grossen Nachbarkulturen Israels legen nahe, dass solche Beziehungen überall vorkamen und weitgehender toleriert als eingeschränkt wurden. Im Vergleich scheint das Thema Homoerotik in Israel allerdings wenig gewichtig.

Wie also soll die Bibel zum Thema anders gelesen werden?
Wir brauchen die Bibel nicht nur als Quelle für kulturgeschichtliche Rekonstruktionen, sondern als Christinnen und Christen auch als Ursprungsdokument, als Prototyp überlieferten Glaubens. Wie gehen Frauen, die Frauen lieben, und Männer, die Männer lieben, mit biblischen Texten um, in denen diese Möglichkeit von Beziehung und Liebe kaum gedacht oder, wie bei Paulus (Römerbrief 1,24–32), gar vehement abgelehnt wird?
Hermeneutisch scheint mir nach wie vor der Ansatz von Elisabeth Schüssler Fiorenza, den sie im Blick auf das für Frauen zwiespältige biblische Erbe in zahlreichen Publikationen entwickelt hat, am tragfähigsten zu sein. Es geht darum, die Texte zu dekonstruieren, wenn sie uns ohnmächtig machen, und mit Phantasie befreiend auszulegen, damit sie uns neu ermächtigen. Die schlechteste Lösung ist, sie einfach zu ignorieren, denn sie gehören zu unseremreligiösen Erbe und sie haben durchaus Relevanz.

Gleichgeschlechtliche Liebe scheint in der Kirche auch deshalb einen schweren Stand zu haben, weil sie keine Kinder hervorbringen kann. Wie sehen Sie das?
Bemerkenswert ist, dass in Genesis 2 die Erschaffung von Mann und Frau, die starke Anziehung der Geschlechter und die Gründung von Lebensgemeinschaften völlig losgelöst erscheint vom Thema Zeugung und Aufziehen von Kindern. Die Fruchtbarkeit ist nur in Genesis 1,27f eng mit der Erschaffung der beiden Geschlechter zum Bilde Gottes verbunden, in Genesis 2 ist sie – wenngleich dann in 3,16 die Gebärfähigkeit der Frau wie selbstverständlich vorausgesetzt wird – nicht explizit im Blick.
In Genesis 2 geht der Impuls zur Erschaffung zweier menschlicher Spielarten zentral von dem einen göttlichen Impuls aus, dass es für den Erdling nicht gut ist, allein zu sein. Die Einsamkeit zu verhindern, ist der eigentliche und übergeordnete Sinn der Erschaffung der Geschlechter. Von diesem Ziel her kann heute auch die Würde einergleichgeschlechtlichen Partnerschaft schöpfungstheologisch begründet werden.
Thomas Staubli hat im Zusammenhang kreativen Umgangs mit sperrigen Texten zu diesem Thema öfter auf wunderbar erhellende Auslegungen bzw. Reaktionsmöglichkeiten hingewiesen.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Der jüdische liberale Rabbiner Jacob Milgrom hat Genesis 1 für jüdische schwule Paare so ausgelegt, dass sie halt den Fruchtbarkeitsauftrag umsetzen sollten, indem sie Kinder adoptieren. Das ist doch eine grossartige innovative Auslegung dieses Textes. Eine andere Möglichkeit ist die, fundamentalistische Steinbruch-Bibelzitation humorvoll ad absurdum zu führen, wie es ein US-amerikanischer Briefeschreiber mit Woody-Allen-Potenzial tat, indem er auf die üblichen Levitikus- Argumente mit folgenden Fragen reagierte: «Wenn ich am Altar einen Stier als Brandopfer darbiete, weiss ich, dass dies für den Herrn einen lieblichen Geruch erzeugt (Lev. 1,9). Das Problem sind meine Nachbarn. Sie behaupten, der Geruch sei nicht lieblich für sie. Soll ich sie niederstrecken?»
Und: «Ich würde gerne meine Tochter in die Sklaverei verkaufen, wie es in Exodus 21,7 erlaubt wird. Was wäre Ihrer Meinung nach heutzutage ein angemessener Preis für sie?»

Interview: Jürg Meienberg

Quellen

Silvia Schroer, «Unsittliches Tun oder anerkennenswerte Lebensform – Lesben, Schwule und Bisexuelle in Kirche und Gesellschaft» (Vortrag an der offenen Tagung des Schweizerischen Katholischen Frauenbunds in Olten im November 2002), in: Zeitschrift «imprimatur», März 2003, siehe: www.imprimatur-trier.de

Thomas Staubli, Das Erste Testament in der öffentlichen Homosexualitätsdebatte, in: Werkstatt Schwule Theologie, Nr. 2/2003, S. 171–181

Link- und Textsammlung der «Ökumenischen Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche e.V.» (www.huk.org), Umgang mit Bibeltexten

Link- und Textsammlung der ökumenischen «lesbischen und schwulen Basiskirche Basel» (www.lsbk.ch): Homosexualität in der Bibel

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