Ich bin ein Mensch aus Syrien

Der Libanon beherbergt circa 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien. Christina Brun erzählt von ihnen.

Denken wir an Menschen aus Syrien, so denken wir an jene, die mit dem Boot übers Mittelmeer nach Europa fahren. Wir denken an jene, wegen denen die Balkanroute geschlossen wurde. Wir denken an jene, die unsere Flüchtlingslager füllen. Doch nur ein Bruchteil von ihnen lebt bei uns. Der Libanon beherbergt circa 1,5 Millionen von ihnen. Dies ist ihre Geschichte:

Fotos und Text von  Christina Brun


Ich bin das Mädchen, das neben der Ampel im Regen wartet. In meinen Händen halte ich einen viel zu grossen Sack mit Taschentüchern. Ich bin diejenige, die diese an die warteten Autos verkauft. Ich bin das Mädchen, das hier jeden Tag steht und die vorbeifahrenden Schulbusse beobachtet. Ich bin diejenige, die die wunderschönen Schuluniformen bestaunt, welche sich mit dem Lachen und Tanzen der Kinder im Bus bewegen. Ich bin diejenige, die ihnen vorsichtig in die Augen schaut, wenn der Bus neben mir stoppt. Ich bin diejenige, die weiss, was sie über mich denken. Sie mit ihren schön geflochtenen Haaren und sauberen Kleidern.
Diese Uniformen erinnern mich an meine, die im Feuer des Krieges verbrannten. Ich war wie sie – ging zur Schule wie sie. Sass in einemSchulbus wie sie. Ich mochte die nette Lehrperson, die hölzernen Schulbänke und die grossen Schulzimmer. Ich bin das Mädchen, das seit dem Ausbrechen des Krieges seine Schulkameraden verlor, als die Schule bis zumErdboden auseinanderbrach. Ich bin diejenige, die neben dieser Ampel steht, die Augen schliesst und sich wünscht, in diesem Schulbus zu sitzen und mit den Mädchen zu lachen und im Bus zu tanzen. Ich bin diejenige, die auch morgen wieder hier stehen wird.

Ich bin der Vater, der mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern aus dem Land geflohen ist. Ich bin derjenige, der alles zurückliess, weil ich Angst hatte um das Leben meiner Familie. Ich bin derjenige, der in diesem neuen Land kein neues Zuhause gefunden hat, das meine Frau und meine Töchter vor dem Regen und der Kälte schützen kann. Ich bin derjenige, der hoffnungslos dasteht und keine Arbeit findet. Ich bin derjenige, der in den Strassen umherirrt auf der Suche nach Arbeit, die mir die Möglichkeit geben würde, meine Familie zu unterstützen. Ich bin derjenige, der am Freitag neben der Moschee sitzt, zusammen mit meinen Freunden, und völlig verzweifelt ist. Ich bin derjenige, den die Menschen als faul bezeichnen, weil ich nicht arbeite. Ich bin derjenige, der zu alt ist, um illegal auf dem Bau zu arbeiten. Ich bin derjenige, der nicht den Mut besitzt, um mit dem Boot nach Europa zu reisen. Ich bin derjenige, der seine Familie nicht alleinlassen will. Ich bin derjenige, der sich eine Zigarette anzündet und mit jedem Ausatmen hofft, seine Sorgen loszuwerden.

Ich bin der junge Mann, der vor vier Jahren seine Heimat verlassen hat. Ich bin derjenige, dessen Bruder in England als Flüchtling lebt. Ich bin derjenige, der seine Eltern im Krieg zurücklassen musste. Ich bin derjenige, der nicht in den Militärdienst wollte. Ich bin derjenige, der jeden Tag mit seinen Eltern skypt und hofft, dass sie auch morgen noch abnehmen. Ich bin derjenige, der mitten in der Nacht schweissgebadet aufwacht und all die schrecklichen Bilder vor Augen sieht. Ich bin derjenige, der in dieser Gesellschaft nicht willkommen ist. Ich bin derjenige, der in der Nachbarschaft etwas einkaufen will und mit abschätzigen Blicken bestraft wird. Ich bin derjenige, dem man sagt, dass ich wegen meiner Religion Frauen nicht respektiere.
Ich bin derjenige, der über Jahre hinweg eine Freundin hatte und alles für sie tat. Ich bin derjenige, der ihr den Mond auf Erden holen würde, um sie lachen zu sehen. Ich bin derjenige, der eines Tages ein Telefon erhielt, das meine Welt zerstörte. Ich bin derjenige, der sie nicht beschützen konnte. Ich bin derjenige, dem der Vater seiner Verlobten mitteilt, dass eine Explosion seine Liebe aus dem Leben gerissen hat. Ich bin derjenige, der im Regen auf seiner Terrasse mitten in einer Grossstadt sitzt und völlig allein ist.

Ich bin die Mutter, die mit ihren drei Kindern alleine floh. Ich bin diejenige, die hochschwanger ihr geschütztes Zuhause verlassen musste. Ich bin diejenige, die seit dieser düsteren Stunde ihren Ehemann vermisst. Ich bin diejenige, die seit vier Jahren nichts mehr von ihm gehört hat. Ich bin diejenige, die jeden Abend dasitzt, in den Himmel schaut und hofft, dass er eines Tages zurückkehrt. Ich bin diejenige, die alleine für das Wohl ihrer Familie zuständig ist. Ich bin diejenige, die ganz alleine ihr viertes Kind zur Welt brachte. Ich bin diejenige, die neben dem Krieg, den Schmerzen und all dem Leid die Hoffnung nicht verliert. Ich bin diejenige, die in den Regentropfen, die vom Himmel fallen, die Sonne für einen neuen Morgen sieht. Ich bin diejenige, die dafür kämpft, dass ihre Kinder zur Schule gehen dürfen. Ich bin diejenige, die daran glaubt, dass es noch mehr gibt als nur Krieg und Zerstörung. Ich bin diejenige, die wieder leben will. Ich bin Syrerin.

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