«Wie ein Einheimischer soll euch der Fremde gelten, der bei euch lebt.» Das Gebot aus dem Buch Levitikus ist in Bern kein Fremdwort. Rabbiner Polnauer und Gäste. Foto: Christoph Knoch

«Man ist sich so nah»

Interreligiöses Pessach-Fest

Das achttägige Pessachfest der Juden ging am Freitag, 29. April zu Ende. Gedacht wird des Auszugs der Israeliten aus Ägypten unter Moses Führung. Eine aussergewöhnliche Feier fand einige Tage zuvor im jüdischen Gemeindehaus in Bern statt: Dutzende Muslime feierten mit – für beide Seiten ein besonderes Erlebnis.


«Wie ein Einheimischer soll euch der Fremde gelten, der bei euch lebt. Und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid selbst Fremde gewesen in Ägypten.» Unter diesem Leitmotiv aus dem 3. Buch Mose waren Muslime im Haus der Jüdischen Gemeinde Bern (JGB) zu einem besonderen Essen eingeladen: den Seder. Seder heisst Ordnung, und die Mahlzeit ist stark ritualisiert mit bestimmten Gebeten und Handlungen nach einemfestgelegten Ablauf. Dahinter stecken die Geschichte der Sklaverei in Ägypten unter dem Pharao und die Befreiung durch den Auszug unter der Leitung Mose. Obschon dieser Auszug aus Ägypten rund 3000 Jahre zurückliegt, sollen Juden Jahr für Jahr dieser Befreiung gedenken und sich Jahr für Jahr überlegen, was für sie Befreiung und Versklavung bedeutet. Unter diesen Vorzeichen gab dieser aussergewöhnliche Seder in Bern dem Thema Flucht und Fremdheit eine besondere Bedeutung: Nicht nur Israeliten vor 3000 Jahren waren geflohen, nein, auch Flüchtlinge, die Syrien vor wenigen Monaten verlassen hatten, sassen am Tisch.

Zu den Organisatorinnen des Abends gehörte die 21jährige Noëmi Knoch, ein engagiertes JGBMitglied und CoLeiterin des Projekts «Respect», welches von der dialogfördernden Organisation «National Coalition Building Institute » (NCBI) ins Leben gerufen wurde. Der Muslimische Verein Bern hatte seinerseits zur Teilnahme aufgerufen. Der Zulauf an diesem Abend übertraf alle Erwartungen: Die JGB hatte mit knapp 50 Gästen gerechnet, doch es kamen fast 60. Im Laufe des Abends stellte sich heraus, dass weniger als die Hälfte der Anwesenden in der Schweiz geboren wurden und dass gleichermassen jüdische wie muslimische Flüchtlinge im Saal sassen.

In der Eile aufbrechen und alles zurücklassen – für diese Hektik kennt die jüdische Tradition das ungesäuerte Brot, die Mazza. Sie ähnelt dem Knäckebrot, schmeckt neutral und symbolisiert den Kern der Geschichte. Kinder stellen die Frage «Ma nischtana»: «Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen?» Rabbiner David Polnauer und Daniel Lis von der JGB-Jugendkommission erzählten die Geschichte und lasen Abschnitte aus dem hebräisch und aramäisch verfassten Büchlein «Haggada ». Dazu kamen symbolische Speisen. So erinnert unter anderem eine Scheibe Meerrettich an die Bitterkeit der Knechtschaft, eine Petersilie mit Salzwasser steht für die zermürbende Arbeit in Ägypten, und eine Mischung aus Äpfeln, Nüssen und Zimt bildet den Lehm, aus dem die versklavten Juden Ziegel herstellen mussten. Lieder und Gebete ergänzten den Ablauf. Juden erk lärten ihre Tradition, an einigen Tischen kamen die englischen, französischen und arabischen Dolmetscher zum Zuge. Mit einer Überraschung konnte zum Schluss des rituellen Teils eine muslimische Teilnehmerin aufwarten: Die Geschichte des Auszugs der Israeliten aus Ägypten kommt in einer Sure auch im Koran vor.

Das Zitat aus der Sure bildete das Ende des rituellen Teils und leitete über in den geselligen Teil mit Menü und Plaudern. Die jüdischen Teilnehmer zeigten sich erleichtert: «Heute war das Vorlesen der Haggada stark gekürzt. Wenn du alles liest, dauert das ohne Weiteres zwei Stunden. Da knurrt der Magen», erklärte jemand verschmitzt. Vor den Töpfen bildete sich eine Schlange, Noëmi Knoch schöpfte Mazzeknödelsuppe, einen Bouillon mit Klössen auch Mazzemehl. Später folgen Salate und Teller mit «Gefillte Fisch», einer Pastete aus Fisch und Gemüse.
Gäste und Gastgeber lobten die Arbeit der Organisatoren. Für beide Seiten stand fest: Sie hatten gegenseitig etwas voneinander gelernt. (...)

Für Nurit Blatman aus Zürich gehörte aus jüdischer Sicht die Sure über Moses zweifellos zu den unerwarteten Erkenntnissen. «Man ist sich so nah. In der Regel betrachten wir den Islam als fremde Religion. Dabei haben wir sehr viele Gemeinsamkeiten.» Diese Reaktionen bestätigen die Erwartungen der Organisatoren. «Du sollst (den Fremden) lieben wie dich selbst, denn ihr seid selbst Fremde gewesen in Ägypten.» Dieses Gebot war an diesem PessachAbend zweifellos erfüllt.

Hannah Einhaus


Anmerkung (19. April 2022): Auf Wunsch der zitierten Personen wurden im zweitletzten Absatz an der Stelle (...), zwei Sätze gelöscht.

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