Der Prignitz-Express von Neuruppin (Fontanes Geburtsort) nach Berlin, rechts ein Graffiti des Schriftstellers. Foto: Keystone

Mathilde, halte Dich proper!

Zum 200. Geburtstag von Theodor Fontane (1819–1898): ein Blick auf seinen späten Roman «Mathilde Möhring».

Zum 200. Geburtstag von Theodor Fontane (1819–1898): ein Blick auf seinen späten Roman «Mathilde Möhring».

von Beatrice Eichmann-Leutenegger

Ist sie überhaupt sympathisch, diese dreiundzwanzigjährige Berlinerin, die zwar ein edles Profil hat, aber sonst? «… die dünnen Lippen, das spärlich angeklebte blonde Haar, das zu klein gebliebene Ohr, daran allerhand zu fehlen schien, alles nahm dem Ganzen jeden sinnlichen Zauber.»
Gnadenlos entwirft Fontane den Steckbrief seiner Mathilde Möhring. Der beissende Spott erweist ihn als einen Verwandten von Thomas Mann, wie auch der ironische Einsatz sprechender Namen: Möhring etwa, das ans Allerweltsgemüse denken lässt, oder Grossmann für einen, der schwach erscheint.

«Mathilde, halte Dich proper!» Mit diesem Ruf begrüsste mich jeweils meine Mutter bei der Rückkehr am Wochenende, um danach gleich von der Hörspielfassung des Kurzromans «Mathilde Möhring» zu erzählen, die 1969 zum 150. Geburtstag Fontanes ausgestrahlt worden war. «Lies das Buch», sagte sie. Da stiess ich auf den Satz, den Mathildes Vater, Buchhalter in einem Tuchexportgeschäft, auf dem Sterbebett gesagt hatte. Mathilde war siebzehn und stand unmittelbar vor der «Einsegnung». Die Mahnung klang in ihr nach, und sie verstand sie in einem moralischen Sinn wie auch im Hinblick auf ihr Äusseres.

Der Zimmerherr Hugo Grossmann, «der schöne Mann mit dem Vollbart», den Möhrings danach in ihrer Wohnung an der Georgenstrasse 19 zwecks Aufbesserung des Haushaltsgeldes aufnahmen, liess sich von der schneidigen Mathilde beeindrucken. Sie besass alles, was ihm, «dem ästhetisch fühlenden und mit einer latenten Dichterkraft ausgerüsteten Menschen» fehlte: Zielstrebigkeit und Ausdauer, praktischen Sinn und taktische Begabung. Und wie gebildet sie sich äusserte, ohne je eine höhere Schule besucht zu haben! So hält er um die Hand von «Fräulein Thilde» an, und am 24. Dezember wird Verlobung gefeiert.

Erst noch gewährt Mathilde ihrem Hugo eine Reihe von Vergnügungen in Theater und Oper, danach aber setzt sie ihr Lernprogramm durch, denn der Verlobte muss unbedingt durchs Referendarexamen in Jura kommen. Er besteht es, wenn auch nicht glänzend, und natürlich findet sie eine Stelle für ihn als Bürgermeister im westpreussischen Woldenstein (einer fiktiven Kleinstadt). Hier, in der Provinz, gewinnt Hugo Grossmann die Sympathie der Bevölkerung wie auch der Honoratioren und setzt sich fürs Einvernehmen zwischen Christ*innen und Juden und Jüdinnen ein. Im Hintergrund zieht Mathilde, «eine famose Frau» – so der Landrat –, klug berechnend die Fäden.

Alles läuft bestens für die Aufsteigerin, würde sich Hugo nicht bei einem Fest am Jahresende ein Fieber zuziehen. Nach kurzer Genesung tritt ein Rückfall ein: diesmal eine rapid fortschreitende Schwindsucht. Am zweiten Osterfeiertag stirbt Hugo. Mathilde, die sich dem weichen Mann gegenüber stets überlegen gefühlt hat, erkennt nun, «dass er mehr Einfluss auf mich gehabt hat als ich auf ihn». Ihrer pragmatischen Natur gemäss, versucht sie sich in die neue Situation zu schicken.

Fontane hat diesen Kurzroman um 1891 begonnen, später überarbeitet, aber nicht mehr vollendet. Er erschien erst nach seinem Tod, 1907, und sollte noch eine komplizierte Editionsgeschichte durchlaufen. Bemerkenswert ist indessen Fontanes Blick in die Zukunft seiner Mathilde. Diese hätte das Angebot eines Grafen als Hausdame annehmen können, aber sie kehrt nach Berlin zurück und widersetzt sich den Heiratsplänen ihrer Mutter. Stattdessen absolviert sie eine Lehrer*innenausbildung, die sie bravourös abschliesst. Täglich fährt diese moderne junge Frau nun mit der Strassenbahn zu ihrem Arbeitsort «zwischen Moabit und Tegel». Fontane bemerkt: «Sie ging mutig ans Werk, hatte frischere Farben als früher …»

Es ist dieser Schluss, der mich bei jeder erneuten Lektüre für Fontane und Mathilde einnimmt. Da flammt die Morgenröte der weiblichen Emanzipation auf, die im Deutschen Kaiserreich mit Helene Lange (1848–1930) eine starke Verfechterin besass. Die Wendung in Fontanes Roman lässt zudem an den verblüffend ähnlichen Schluss von Tschechows Erzählung «Die Braut» (1903) denken. Und so empfindet man für die couragierte Berlinerin schliesslich Respekt. Well done, Mathilde!

 


Zum 200. Geburtstag von Theodor Fontane:
ein Blick auf seinen späten Roman «Mathilde Möhring».

  • Regina Dieterles, «Theodor Fontane», Hanser 2018. (Grosse, neue Biografie zum Fontane-Jahr. Lebendig, anschaulich,auf der Höhe der Zeit.)
  • Iwan-Michelangelo D’Aprile, Fontane: Ein Jahrhundert in Bewegung, Rowohlt 2018. (Fontanes berühmteste Werke dürften etwa «Effi Briest» oder «Irrungen und Wirrungen» sein. Der Germanist Iwan-Michelangelo D’Aprile zeigt Fontane als einen der modernsten Autoren seiner Zeit.)
  • Theodor Fontane, Effi Briest, S. Fischer 2019. (Effi Briest neu editiert und von Buchkünstler Jörg Hülsmann aufwändig gestaltet, illustriert und interpretiert - als edler fadengehefteter Ganzleinenband mit Lesebändchen.)
  • Theodor Fontane, Wundersame Frauen. Weibliche Lebensbilder aus den «Wanderungen durch die Mark Brandenburg», hrsg. von Gabriele Radecke und Robert Rauh, Manesse 2019.
  • Theodor Fontane: Stine / Mathilde Möhring, S. Fischer 2011.

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