Wir werden alle zurückgeschnitten und zurechtgestutzt. Foto: Béatrice Lüscher-Fischer

Mitten im November

Was uns die Pflanzen lehren können.

Mitten im November tauchen in mir Kindheitserinnerungen auf: das Rascheln abgefallener Blätter unter den Füssen, feuchtkalte Nebelschwaden über dem Fluss, der Duft von den Ständen mit heissen Marroni in der Nase, der obligate Gräberbesuch bei stürmisch-kalter Bise, die Heimkehr in die wohlig-traute Stube, wo wir Kinder unsere eiskalten Hände am knisternden Holzofen aufwärmten. Und glücklich waren, wieder drinnen im Warmen spielen zu dürfen.

Heute sind im November die Gartenarbeiten weitmöglichst beendet. Die Geranien frühlingsgerecht zurückgeschnitten. Der Oleander und meine prächtige Dipladenia stehen sauber versorgt im Plastik-Winterhäuschen. Der Gärtner hat inzwischen meine gelben und weissen Daturas, meine Palme und den tragenden Olivenbaum für eine pflanzengerechte Winterlagerung abgeholt. Leichte Wehmut räuspert sich jedes Jahr in meinem Herzen, wenn ich von den Pflanzen Abschied nehmen muss, und wie freue ich mich jeweils, wenn sie mir nach den Eisheiligen im Mai wieder zurückgebracht werden.

Jede*r Gärtner*in weiss, welche Weisheit in den Pflanzen verborgen liegt. Sie zeigen uns, dass Schnitte notwendig sind, auch wenn sie wehtun. Umso üppiger und schöner wird später die Blüte sein. Sie ertragen keine Eiseskälte, sondern brauchen Wärme, um zu gedeihen. In den Wintermonaten konzentrieren sie ihre Kräfte auf die Knollen und Wurzeln, auf das Wesentliche, um bei den ersten warmen Sonnenstrahlen zu keimen, zu spriessen und bald darauf in Pracht zu explodieren.

Der Monat November scheint die Aufgabe zu haben, uns auf unsere innerste Mitte, auf unsere Struktur aufmerksam zu machen. Wir werden alle zurückgeschnitten und zurechtgestutzt. Wir bekommen die Möglichkeit geschenkt, zu reflektieren und zu verarbeiten. Der November wird dieses Jahr vom Corona-Virus unterstützt, damit wir uns wieder auf das Wesentliche beschränken, auf eine lebendige Beziehung mit unserem Schöpfer. Wir sind nur Gast auf Erden und sollen in unserer Rastlosigkeit den Blick auf das Unvergängliche richten.

Dabei hilft uns auch die Liturgie. Sie spricht über die Endzeit und das letzte Gericht. Es ist der Monat der armen Seelen und der Monat aller Heiligen. Wir sind im Herzen Gottes tief mit ihnen verbunden. Martin Luther King (1929–1968) hat einst gesagt, «nur im Dunkeln sieht man die Sterne». Das darf man durchaus im übertragenen Sinn verstehen. Einsamkeit, Trauer, Angst, Schmerz und Leiden gehören ebenso zum Menschsein wie die Freude. Es ist das Kreuz, das uns in die Fülle des Lebens führen will, hinein in die explodierende selige Freude. Das dürfen wir am Beispiel unserer Pflanzen lernen.

Béatrice Lüscher-Fischer

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