Für den Zürcher Politikwissenschafter Thomas Widmer sind kantonale Strukturen für die Wahlen entscheidend. Foto: Georges Scherrer

Religion spielt keine Rolle

Der Politikwissenschaftler Thomas Widmer über religiöse Themen im Wahlkampf

Der Wahlkampf für die eidgenössischen Wahlen ist nicht der Zeitpunkt für heikle religiöse Themen, sagt der Zürcher Politikwissenschafter Thomas Widmer. Denn die Kandidat*innen wollten die potenziell gläubigen Wähler*innen keinesfalls vergraulen. Dennoch sollten sich Kirchenvertreter öffentlich äussern, auch wenn ihre Meinung irritieren könnte.


Von Georges Scherrer, Bearbeitung Andreas Krummenacher

Die Diskussion über die Muslime in der Schweiz könnte andeuten, dass das Thema Religion in der Politik an Bedeutung zugenommen hat. Der Zürcher Forscher sieht das anders. Er spricht von einer gesellschaftlichen Diversifizierung und einer Vielfalt unterschiedlicher Religionszugehörigkeiten. Zudem gebe es eine stetig wachsende Gruppe von Konfessionslosen.

Religiöse Grundwerte stellen in gewissen politischen Fragen durchaus noch relevante Referenzpunkte dar. Der Wissenschafter nennt hierzu Themen wie Abtreibung, Ehe für gleichgeschlechtliche Paare oder die Sterbehilfe. Bei anderen politischen Fragen könnten sich die Religionsgemeinschaften deutlich weniger einbringen.

Während des Wahlkampfes dürften jedoch heikle religiöse Themen eher aussen gelassen werden: «Die Kandidat*innen haben kein Interesse daran, sich mit den Kirchen schlecht zu stellen», sagt der Politologe. Sie würden sich vielmehr in der Regel bemühen, eine «freundlich positive Grundhaltung» gegenüber den Kirchen und ihren Mitgliedern einzunehmen. Denn diese seien potenzielle Wähler*innen.

Kirche und Politik

Umstritten bleibt gemäss Widmer die Frage, inwiefern sich Exponent*innen der Kirchen in politische Diskussionen einbringen sollen. Diese Debatte werde auch kontrovers innerhalb der Landeskirchen geführt. Auf katholischer Seite kritisierten etwa kirchlich-konservative Kreise die Nähe der Landeskirchen zu staatlichen Institutionen und plädierten für eine strikte Trennung von Kirche und Staat. Andere religiöse Kreise würden sich für eine starke Rolle der Kirchen in der politischen Debatte aussprechen: «Die Kirchen müssen sich einbringen und ihre Positionen in der Politik vertreten.»

Erhebungen am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich unter der Leitung von Widmer hätten jedoch ergeben, dass die Bevölkerung die Rolle der Landeskirchen nicht unbedingt darin sehe, dass sie sich an politischen Diskussionen beteilige. Die Menschen wünschen sich von den Landeskirchen vielmehr, dass sie sich ihrem «Kerngeschäft» widmen und namentlich für Angebote wie Gottesdienste und Seelsorge besorgt sind.

Widmer ist aber der Auffassung, dass sich die Kirchen und Religionsgemeinschaften durchaus öffentlich äussern sollen, auch wenn ihre Stimmen fallweise als störend oder gar irritierend empfunden würden. Mit ihren Stellungnahmen würden sie zur Vielfalt der politischen Diskussionen beitragen.

Kanton ist wichtig

Thomas Widmer führt weiter aus, dass es von Kanton zu Kanton nach wie vor grosse Differenzen gebe. Einen Wahlentscheid würden individuelle und strukturelle Faktoren prägen. Bei letzteren spiele die sozio-demografische Zusammensetzung sowie die traditionelle und aktuelle Bedeutung der Parteien in einem Kanton hinein. Er erklärt das anhand eines Vergleichs. Im Wallis spiele die CVP eine ganz andere Rolle als in Bern. «Im Bergkanton hat die Partei eine starke Tradition, in Bern ist sie schwach etabliert.»

Das verändere auch die Ausgangslage für die Bürger*innen. Die Walliser CVP verfüge über zahlreiche prominente Persönlichkeiten, die im Kanton stark verankert sind; in Bern habe die CVP hingegen einen deutlich schwereren Stand. Dass im Kanton Wallis der Wähleranteil der CVP höher liege als im Kanton Bern, habe auch mit dieser strukturellen Ausgangslage zu tun und sei nicht nur darauf zurückzuführen, dass im Kanton Wallis der Anteil der Katholik*innen höher ist.

Auch wenn am 20. Oktober das nationale Parlament neu bestellt werde, so seien es dennoch regionale Wahlen, die in den Kantonen entschieden werden. Deswegen spielen nicht nur die bundesweiten Thementrends wie Klimawandel und Gleichstellung eine Rolle, sondern auch die je nach Kanton unterschiedlichen strukturellen Faktoren, so Widmer.

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