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Für Sie gelesen. Tipps aus der Buchhandlung voirol

Für Sie gelesen. Tipp aus der ökumenischen Buchhandlung voirol

Erstmals liegen sämtliche Tagebücher und Briefe von Etty Hillesum in deutscher Sprache vor. Die schön gestaltete Ausgabe mit Bildern und Anmerkungen lässt eine Schriftstellerin und Denkerin neu entdecken, die den Dingen auf den Grund ging, Gott suchte und als Zeugin über das Schicksal ihres Volkes eine Sprache fand für das Unerträgliche.

Mit 27 Jahren, zehn Monate nach Beginn der deutschen Besatzung in den Niederlanden, hat Etty Hillesum mit dem Schreiben ihres Tagebuchs begonnen und es bis zu ihrer Deportation nach Auschwitz im September 1943 unermüdlich weitergeführt. Inspiriert von einer Psychotherapie, wollte sie durch das Tagebuchschreiben sich selbst besser verstehen lernen und den Dingen auf den Grund gehen. In ihrem genauen Ergründen von Innen- und Aussenwelt, wandte sie sich spirituellen, politischen und philosophischen Fragen zu. Dabei stellte sie den grossen Anspruch an sich, aus ihrem Leben «ein makelloses und ernsthaftes und grosses Ganzes» zu machen.

Worte wie Gott und Tod und Leiden und Ewigkeit muss man wieder vergessen. Und man muss wieder so einfach und wortlos werden wie das Ge­ treide, das wächst, oder der Regen, der fällt.

Etty Hillesum

Im Sommer 1942 begann Etty Hillesum, im Durchgangslager Westerbork für die «soziale Versorgung der Durchreisenden» zu arbeiten. Ihre Tagebücher wurden zu einem der wichtigsten Dokumente über die Deportation und Internierung von Juden und Jüdinnen aus den Niederlanden. Dokumente, die in ihrer gedanklichen Tiefe weit über die Dokumentation hinausgehen. Inmitten des Schreckens berichtete sie von der Suche nach Einfachheit, Achtsamkeit und schliesslich nach Licht in der «Hölle auf Erden.»

Es ist mitunter kaum zu verdauen und zu begreifen, Gott, was sich deine Ebenbilder auf der Erde in diesen entfesselten Zeiten gegenseitig alles an­ tun. (...) und ich ver­suche immer wieder, den nackten kleinen Menschen ausfindig zu machen, der oft inmitten der monströ­sen Ruinen seiner sinnlosen Taten nicht aufzufinden ist.

Etty Hillesum

Das Lesen von Etty Hillesums Tagebüchern beeindruckt zutiefst. Unter den denkbar schlimmsten Umständen, ihrer Erschöpfung und ihrem Leiden zum Trotz, brachte sie eine Fülle klarer, allumfassender Gedanken zu Papier, von denen wir dankbar sein können, dass sie – Etty Hillesums Hoffnung entsprechend – den Weg in unsere Gegenwart gefunden haben: «Ich lasse meine Gedanken (...) ungehindert zu euch hinausströmen, ihr fangt sie schon auf.»

Selma Balsiger

Etty Hillesum: Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe. 1941–1943. C.H. Beck 2023, 980 S., Fr. 54.90

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