Warum soll man verreisen, wenn man an einem solchen Ort wohnt? Foto: Pia Neuenschwander

Alles funkelt, sprüht und schäumt

Zum Auftakt dieser Serie zur Sommerzeit geht's an den Fluss

Text: Beatrice Eichmann-Leutenegger
Fotos: Pia Neuenschwander

«Wenn Sie an einem solch schönen Ort wohnen, brauchen Sie nicht in den Urlaub zu fahren!» Wie bitte? Missmutig wartete ich an der Station Bodenacher in Muri auf den Fährmann, der mich ans andere Aareufer bringen sollte. Im Gespräch mit einem deutschen Paar fiel dieser Satz, der mich aufhorchen liess. Ja, warum war ich eigentlich in eine trübe Stimmung geraten? Weil rings um mich alle die Koffer gepackt hatten, während ich zu Hause blieb? Weil überall Ferienlaune verordnet wurde?


Nüchtern betrachtet, verheissen Urlaubstage kaum grössere Freiheit. Und wenn schon: Der Preis, den man dafür bezahlt, ist nicht gering. Abgesehen von den finanziellen Kosten nimmt man lange Wartezeiten am Flughafen in Kauf, steckt an Hitzetagen auf der Autobahn im Stau fest, quält sich durch überfüllte Städte oder Strände, kämpft mit Verdauungsproblemen. Die Nerven liegen blank.

Reisen verändert gar nichts – höchstens die eigene Darmflora.


Der Tourismushistoriker Valentin Groebner (Universität Luzern) sagt pointiert: «Reisen verändert gar nichts – höchstens die eigene Darmflora.»


Längst nicht alle Menschen können oder wollen im Sommer wegfahren, auch nicht in der reisefreudigen Schweiz. Finanzielle, gesundheitliche oder berufsbedingte Umstände vereiteln solche Wünsche. Welche Bäuerin, welcher Bauer meldet «Betriebsferien» an?

Hat je einer gesehen, dass der Philosoph Immanuel Kant Königsberg verlassen hätte?

Nicht zu vergessen sind die Ferienmuffel. Hat je einer gesehen, dass der Philosoph Immanuel Kant Königsberg verlassen hätte? Der Nobelpreisträger von 2014, der scheue Pariser Autor Patrick Modiano, erklärt: «Das Reisen ängstigt mich.» Stattdessen flaniert er durch die Strassen seiner Stadt, erweckt ihre Geschichten in wunderbar atmosphärischen Texten.


Noch immer gilt der Spruch: «Was willst du in die Ferne schweifen …?» Sie wissen, wie der Satz endet. Fast immer liegt das Gute tatsächlich in der Nähe. Einige Schritte aus dem Haus, eine kurze Busfahrt, und schon hat man einen wohltuenden Ort erreicht. Etwas schadenfroh – durchaus erlaubt! – denkt man an die ungeduldigen Mitmenschen im Stau.

«Was willst du in die Ferne schweifen …?»

Umso entspannender ist ein Spaziergang der Aare entlang. Die Bäume bilden mit ihren Kronen das Dach einer grünen Kathedrale, die Luft streicht kühlend über das Gesicht, das Herz weitet sich. Hört man dem Wasser zu, denkt man an den englischen Kinderbuchklassiker «Wind in den Weiden» («The Wind in the Willows») von Kenneth Grahame. Der Maulwurf hat seinen Bau verlassen und sieht erstmals einen Fluss:

«… so ein glattes, geschmeidiges, machtvolles Geschöpf, das wisperte und fl üsterte, sich mit einem Kichern Dinge griff und gleich wieder mit einem Lachen entliess, um sich auf neue Spielgesellen zu stürzen, die sich nur freischüttelten, um abermals gefangen zu werden. Alles rieselte und rann, funkelte und blendete, sprühte und schäumte, plätscherte und gurgelte …»


Der Fluss fliesst und fliesst, und er muss nicht zwingend ein Bild der Vergänglichkeit abgeben, wie dies Goethe im elegischen Gedicht «An den Mond» empfunden hat. Vielmehr kann er Befreiung versprechen. Fromme Juden und Jüdinnen begaben sich am Neujahrstag ans Flussufer (nachzulesen in Elias Canettis Erinnerungen «Die gerettete Zunge») und leerten in einem symbolischen Akt ihre Taschen. Sünden und Lasten sollten mit dem Wasser wegziehen, damit die Gläubigen erleichtert dem neuen Jahr entgegensehen konnten. Warum es nicht einmal selbst versuchen?


Dass Flüsse nicht nur idyllische Gewässer sind, wusste ich früh. Im Arbeitszimmer des Vaters hing die Tafel mit einer Auszeichnung der Carnegie-Stiftung. In den Strudeln und Wirbeln der Aare bei Brugg waren zwei Mädchen in grosse Not geraten. Er rettete sie, obwohl er kein ausgebildeter Rettungsschwimmer war. Eine Narbe beeindruckte uns Kinder am meisten: Die Mädchen hatten sich an ihm festgekrallt und ihn in ihrer Panik ins Bein gebissen.


So erzählt jeder Fluss Geschichten. Manchmal sage ich, die Aare sei der Magdalenenstrom. Der Kolumbianer Gabriel García Márquez gestaltet in seinem Roman «Die Liebe in den Zeiten der Cholera» (1985) ein fast märchenhaftes Finale.

«… sie hatten genug zusammen erlebt, um zu erkennen, dass die Liebe zu jeder Zeit und an jedem Ort Liebe war, jedoch mit der Nähe zum Tod an Dichte gewann.»

Nach über fünf Jahrzehnten des Wartens findet sein Paar, Fermina Daza und Florentino Ariza, zusammen: auf dem Schiff «Nueva Fidelidad», das auf dem Río Magdalena fährt. Der Kapitän verweigert Fracht und Passagiere und hisst die Choleraflagge, damit die Liebenden ungestört bleiben. «… sie hatten genug zusammen erlebt, um zu erkennen, dass die Liebe zu jeder Zeit und an jedem Ort Liebe war, jedoch mit der Nähe zum Tod an Dichte gewann.»

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