Ilario Bagnariol hat das Unglück überlebt. Foto: Vera Rüttimann

Als die Eiszunge abbrach

Gedenkgottesdienst zum Mattmark-Unglück am 26. August

Am 30. August 1965 kommt es beim Bau des Mattmark-Stausees zur grössten Katastrophe der Schweizer Baugeschichte. Bei einem Gletscherabbruch kommen 88 Arbeiter ums Leben. Ilario Bagnariol überlebt. Zu Besuch bei ihm.

Text und Fotos: Vera Rüttimann

Ilario Bagnariol begrüsst den Gast bei sich zu Hause in Ins. Auf dem Küchentisch hat er viele Zeitungsartikel und Fotos ausgebreitet. In den Händen hält Ilario Bagnariol eine Ausgabe von «Paris Match» mit dem Titel: «La tragédie d'un glacier». Ein anderes Magazin titelt: «Zerschlagen vom Eis».

Der gebürtige Italiener kam 1963 in die Schweiz. Er fand Arbeit als Bulldozerfahrer auf der Baustelle des Mattmark-Staudamms oberhalb von Saas-Almagell. Hier entstand der grösste Erddamm Europas, 120 Meter hoch. Ein Foto zeigt Ilario Bagnariol als 23-jährigen. Voller Optimismus, fröhlich lachend, auf einem gelben Bulldozer.

Er habe, erzählt Ilario Bagnariol, immer eine Fotokamera dabeigehabt. Daher liegen auf dem Tisch auch viele seiner Farb- und Schwarzweissbilder. Man sieht darauf zerstörte Baracken, zerfetztes Holz und riesige Eisblöcke. «Ich denke jeden Tag an die toten Kameraden», sagt er.

«Sieben Meter vor mir geschah es»

Der heute 81-Jährige hat als Überlebender schon oft über das Mattmark-Unglück gesprochen. Leicht fällt es ihm auch heute nicht. Gerade vor dem Gedenktag komme vieles hoch. Es war am 30. August 1965, als auf der Mattmark-Baustelle auf 2197 Metern das Unvorstellbare geschah: Um 17.15 brach die Zunge des Allalingletschers ab. Zwei Millionen Kubikmeter Eis krachte auf die Wohn- und Arbeitsbaracken.


«Ich blickte genau in Richtung Gletscherzunge, als sie abbrach», sagt Ilario Bagnariol. Sieben Meter vor ihm seien die Eisblöcke hinunter gedonnert. «Zuerst kam die Druckwelle, dann ein Eisnebel, der alles verhüllte. Als sich dieser legte, war das Barackendorf weg.»

«Kein Körper war ganz»

Ilario Bagnariol wurde die Aufgabe zugeteilt, nach den Verschütteten zu suchen. «Ich suchte mit dem Bulldozer nach Toten. Den ersten, den ich fand, war ein Polizist», erinnert er sich. Durch die unglaubliche Druckluft des berstenden Eises sei sein Mund voller Schnee gewesen. «Wir fanden keinen Körper, der unversehrt war. Die Leute hatten keine Füsse, Arme oder Köpfe mehr», sagt er. Er stockt immer wieder. «Dabei», fügt er an, «habe ich mit einigen am Morgen noch gelacht.» Auf der Baustelle seien sie eine riesige Familie gewesen.

Die Toten wurden in einer Halle aufgebahrt. Viele waren bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Bilder brannten sich bei ihm ein. Ilario Bagnariol erinnert sich an einen Fall, bei dem er einen Toten aufgrund des Gürtels identifizieren konnte, einen anderen an seiner Zigarettenmarke «HB». «Von tausend Leuten auf dem Bau rauchten nur zwei diese Zigaretten.»

«Meine Kinder wissen alles»

Ilario Bagnariol fand nach dem Mattmark-Unglück als Bulldozerfahrer schnell neue Arbeit. In Thielle half er auf den Baustellen mit, den Zihlkanal zwischen dem Bieler- und dem Neuenburgersee zu erweitern. Hier lernte er auch seine Frau kennen. Die beiden heirateten, und er zog mit ihr nach Ins, wo sie seit 1971 leben. Danach begann er, in der Gemeinde zu arbeiten. Er fand Freunde. Ein Bild auf dem Tisch zeigt ihn mit den Kollegen des Gemeindebetriebswerkhofs Ins.


Seinen zwei Kindern habe er später vom Mattmark-Unglück erzählt. «Es macht mich manchmal traurig, dass in der Schweiz nur noch wenige Menschen wissen, was am Mattmark passiert ist», sagt er. Immerhin sei eine neue Generation von Wissenschaftler:innen jetzt dabei, die Mattmark-Katastrophe aufzuarbeiten.

Mattmark nicht vergessen

Jedes Jahr treffen sich die Überlebenden am Mattmark zu einem Gottesdienst. Der nächste findet am 26. August statt. In der Kapelle unterhalb des Staudamms sieht Ilario Bagnariol jedes Mal die Gedenktafel, die an die verstorbenen Bauarbeiter erinnert. Er habe einen starken Glauben. «Der hat mir geholfen, dieses Unglück zu verarbeiten.»


Weitere Bilder auf seinem Tisch zeigen Momente eines Gedenkgottesdiensts, zu dem jeweils auch viele Menschen aus Italien anreisen. Sie alle scharen sich um den Altar, hinter dem ein grosses Kreuz steht. Im Hintergrund der einst mächtige Allalingletscher. Ilario Bagnariols Fotos, die jeweils von ihm gemacht hat, zeigen seinen dramatischen Schwund. «Da ist fast nichts mehr da, das tut weh.» Nicht verschwinden sollen die Erinnerungen an diese Katastrophe – «Mattmark soll nie vergessen werden.»

 

Zum Mattmark-Unglück
Der Mattmark-Stausee befindet sich südlich im Saastal, er ist der grösste Erddamm Europas. Ab Mitte der 1950er-Jahre wurde die Idee eines Staudamms in der Region durch die Elektrowatt realisiert. Die eigentlichen Bauarbeiten begannen im Mai 1960. Am 30. August 1965 führte ein Gletscherabbruch des Allalingletschers zur Katastrophe. 88 Bauarbeiter, darunter 56 Italiener, wurden unter 2 Millionen Kubikmeter Eis und Geröll begraben. Sie wurden zumeist in ihren Unterkunftsbaracken verschüttet. Diese befanden sich unmittelbar unterhalb der Gletscherzunge. Bei einem späteren Prozess wurden sämtliche Angeklagten freigesprochen. Die Prozesskosten wurden zur Hälfte den Klägerfamilien auferlegt. Der Journalist Kurt Marti deckte später auf, dass man um die Gefahren des Gletschers wusste und dass das Gericht sämtliche belastende Fakten ausgeblendet hatte. Die Einweihungsfeier des Staudamms erfolgte dann am 25. Juni 1969 durch Nestor Adam, den damaligen Bischof von Sitten.

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