So könnte die Flucht von Hugenott:innen auf dem Wasserweg ausgesehen haben: Gemälde von Locarneser Protestant:innen auf der Flucht nach Zürich. Foto: Eduard Widmer

Als die Hugenotten ins Bernbiet flüchteten

Von der Verfolgung zum Fashion-Business

Tausende protestantische Flüchtlinge aus Frankreich brachten im 17. Jahrhundert wirtschaftliche und kulturelle Impulse nach Bern. Ihre Spuren sind immer noch sichtbar. Ihr Fluchtweg bildet heute eine Kulturroute des Europarats: 1'800 Kilometer von Südfrankreich bis nach Hessen wird die Schweiz von Genf bis Schaffhausen durchquert.

Von Karl Johannes Rechsteiner

Das historische Gemälde zeigt protestantische Flüchtlinge aus Locarno, die in Richtung Zürich fliehen. Es dokumentiert, wie der Wasserweg schon früher oft die schnellste Route war, um Leib und Leben vor Verfolgung zu retten. Die überfüllten Schiffe der Geflüchteten führten im 17. Jahrhundert nicht übers Mittelmeer, sondern innerhalb Europas von Südfrankreich und dem Piemont in Richtung Württemberg, Brandenburg oder Hessen und weiter etwa in die Niederlande oder in die  Amerikas.

Die damalige Schweiz war ein Durchgangsland für viele der als «Hugenotten» verunglimpften Verfolgten. (Das Wort geht auf eine  Verballhornung des französischen Worts für Eidgenossen (hugenots) zurück. Als solche wurden die Anhänger:innen Calvins in Frankreich bezeichnet.)

Auch für die 137 Menschen, die am 5. September 1687 in Aarberg im Berner Seeland zwei Weidlinge bestiegen. Die beiden völlig überfüllten Boote kenterten kurz vor Lyss – 111 Passagier:innen ertranken. Im lauschigen Auenwald an der Alten Aare erschrecken einen heute Infotafeln der Stiftung Via, die an das grösste Schiffsunglück erinnern, das in der Schweiz je passiert ist.

Auch Adlige

Es waren oft keine armen Schlucker:innen, die auf diese Weise flüchteten. Auch protestantische Adlige ergriffen die Flucht. Unter den Repressalien von König Ludwig XIV. flohen rund 60'000 Hugenotten und Hugenottinnen aus Südfrankreich und 3'000 Waldenser:innen aus dem Piemont in die Eidgenossenschaft.

Der Sonnenkönig schränkte nicht nur die Religionsfreiheit ein, sondern verbot zur selben Zeit die Fabrikation von bedruckten bunten Baumwollstoffen im indischen Stil, vorwiegend ein Geschäft der Reformierten – zum Schutz einheimischer Textilprodukte wie Seide, Wolle und Leinen. So zogen zahllose hugenottische Familien samt Know-how, Geschäftbeziehungen und Glauben in die heutige Schweiz. Sie gründeten von Genf über Basel bis nach Glarus eigene Indiennes-Manufakturen und Zulieferbetriebe.

Hugenottische Unternehmer wie Jacques-Louis de Pourtalès, der «König der Händler» in Neuenburg, kamen in ihrer neuen Heimat zu grossem Reichtum. Sie exportierten ihre Textilien im kolonialen Dreieckshandel bis nach Westafrika. Dort beluden sie die Schiffe mit Sklavinnen und Sklaven, die sie mit dem Ertrag aus den Textilien erworben hatten.

In den Amerikas mussten die versklavten Menschen dann auf den Baumwollfeldern der Plantagen die Rohstoffe ernten, die ihrerseits für die bunten Textilien aus der Schweiz verschifft wurden. So begann das globale Fashion-Business – die ganze Warenkette brachte Profit. 

Textilien, Kunsthandwerk, Chemie und Uhren

Die meisten Flüchtenden verliessen damals die Schweiz in Richtung Norden, etwa in Gebiete, die infolge des Dreissigjährigen Krieges entvölkert waren. Rund 20'000 Hugenott:innen blieben in der Eidgenossenschaft und brachten von Genf über Basel bis Glarus der Wirtschaft und Gesellschaft neue Ideen – neben den Textilien auch im Kunsthandwerk, der Chemie (Farbenherstellung) oder der Uhrmacherei.

Das protestantische Bern steuerte die Migration und organisierte die Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge sowohl in der Stadt als auch in seinem Herrschaftsgebiet vom Genfersee bis nach Brugg. Auch in der Bundesstadt fabrizierten etliche Manufakturen die bunten Baumwollstoffe. Der Seidenweg in Bern oder der Maulbeerkreisel in Thun erinnern daran, dass hierzulande sogar Seidenstoffe hergestellt wurden.

1623-2023: Das Berner Hugenotten-Jubiläum
Stadtrundgang per Leporello

2023 feiert die reformierte französische Kirchgemeinde Bern ihr 400-Jahre-Jubiläum. Dazu hat die Stiftung «Via – auf den Spuren der Hugenotten und Waldenser» einen Leporello publiziert, der zu historischen Orten in Bern führt. Die zwölf Stationen mit Bezug zur hugenottischen Gemeinschaft führen von der Grossen Schanze über den Bubenbergplatz und die Weihergasse bis zur Untertorbrücke. Mittendrin die Französische Kirche, vor der Reformation das Zentrum des Berner Dominikanerklosters. via-hugenotten.ch

Objekte und Einblicke im Historischen Museum
Bei der reformierten Fluchtwelle aus Frankreich spielte Bern eine wichtige Rolle, denn es organisierte die Unterbringung und Versorgung sowie den Weitertransport der Glaubensflüchtlinge vom Genfersee bis fast nach Deutschland. Das Berner Rathaus bildete die Schaltzentrale im Migrationsmanagement. Hier waren die Ratsstuben früher mit Werken hugenottischer Kunstschaffender ausgestattet. Manche Objekte befinden sich heute im Bernischen Historischen Museum. Es bildet die letzte Station des Rundgangs auf dem oben erwähnten Leporello und thematisiert die Franz. Kirche, die Tapisserien, den Maler Mareschet und den damaligen Technologietransfer. bhm.ch/hugenotten

Feiern und Führungen

Vor 400 Jahren wurde die ehemaligen Dominikanerkirche in Bern zur Französischen Kirche. Seither werden hier Gottesdienste auf Französisch abgehalten. Das Jubiläum «1623–2023 | Eglise française – entre accueil et exclusion» findet bis zum 1. Oktober statt – unter anderem mit Konzerten, Führungen und Gottesdiensten. Ein Symposium beleuchtet zum Beispiel am 16. September die historische Sicht auf die Französische Kirche und die Hugenotten. 400jahre.ch

Wurzeln schlagen – Menschen und Pflanzen im Exil
Der Stiftsgarten unterhalb der Münster-Plattform zeigt eine Ausstellung zur Verbreitung des Gemüseanbaus durch die Hugenotten und die Gemüse, die sie mitbrachten: Kardy, Artischocke, Lauch und Krautstiel. Öffnungszeiten bis November: Montag, Mittwoch, Freitag von 14:00–17:00 Uhr. stiftsgarten.ch

Wanderführer als Zeitreise
In 28 Tagen von Genf nach Schaffhausen – dieser neue Wanderführer ist ein pfiffiges kleines Büchlein selbst für Nicht-Wanderer … Entlang der 580 Kilometer der Hugenotten-Kulturroute durch die Schweiz erzählt das Lesebuch unzählige Episoden zu kulturhistorischen Orte und spannenden Hintergründen auf den Spuren der Hugenotten.

Florian Hitz, Auf den Spuren der Hugenotten und Waldenser, CHF 28.00, Stiftung Via (Hrsg.) via-hugenotten.ch

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