«Literatur hat die grosse Verantwortung, den Menschen zu zeigen, wie sie sind», sagt Usama Al Shahmani. Foto: Limmat Verlag

«Als Schriftsteller lebe ich in der Sprache»

Der irakische Schriftsteller Usama Al Shahmani liest im aki.

Usama Al Shahmani floh aus dem Irak in die Schweiz. Im Gespräch erzählt er, warum Iraker:innen nicht wandern, aber mit Bäumen sprechen.

Interview: Sylvia Stam

«pfarrblatt»: Ihre Texte bestechen durch eine bildhafte Sprache. Haben Sie eine Metapher dafür, wie sich ein Schriftsteller fühlt, der in ein Land kommt, wo er die Sprache nicht versteht?

Usama Al Shahmani: Das ist wie ein Fremder, der in eine grosse, neue Stadt kommt. Man entdeckt zuerst die grobe Orientierung – Osten, Westen. Dann schaut man, wohin die grossen Strassen führen. Schliesslich geht man in die Details. Es ist ein Entdeckungsprozess. Man entdeckt Dinge, man beginnt zu vergleichen, natürlich vermisst man manches, aber man versucht, die Lücken zu füllen mit dem, was man bekommt. Man wird ein grosser Sammler. Zuerst weiss man nicht, was man mit all dem tun soll, was man gesammelt hat. Aber irgendwann gestaltet man daraus ein Bild.

Zuerst weiss man nicht, was man mit all dem tun soll, was man gesammelt hat. Aber irgendwann gestaltet man daraus ein Bild.


In Ihrem ersten Buch beschreibt der Ich-Erzähler, ein Iraker, der in der Schweiz landet, seine Befremdung über das Wandern. Warum ist das für Iraker:innen seltsam?

Es gibt auf Arabisch kein Wort für das Wandern, weil es diese Kultur nicht gibt. Wenn es diese Kultur nicht gibt, dann fehlt das Wort. Die Bedingungen sind anders: Im Irak herrscht seit fast 70 Jahren Krieg. Wandern ist ein Luxus, den es dort so nicht gibt. Für Schweizer:innen bedeutet Wandern eine Nähe zur Natur. Die Definition von Natur ist im Irak anders.

Wofür fehlen Ihnen umgekehrt auf Deutsch Worte?

Im Arabischen gibt es das Wort «tarab». Es bedeutet, so sehr mit einem Musikstück zu verschmelzen, dass man sich selbst vergisst. Das kennt man im Sufismus, im Judentum, im Islam. Man erzählt, dass vor 1000 Jahren in Mossul und in Bagdad kleine Operationen durchgeführt werden konnten, weil die Menschen keine Schmerzen im Körper spürten, wenn sie mit der Musik verschmolzen. Um die Bedeutung dieses Wortes zu vermitteln, muss ich diese ganze Geschichte erzählen. Und wenn die Literatur etwas erklärt, verliert sie ihre Qualität. Literatur muss erzählen, nicht erklären.

Was verbinden Sie mit dem Begriff Heimat?

Heimat ist für mich kein Ort, es ist ein Korb voller Gefühle, voller Erinnerungen, die ich mit einer Atmosphäre, mit einem Raum verbinde. Die Sprache ist da natürlich zentral. Für mich ist die Sprache wichtiger als der Ort. Als Schriftsteller lebe ich in der Sprache, ich kann überall leben. Die Verbundenheit mit Menschen und mit einer Sprache bleiben stabil, die nähren uns immer, während Orte ändern können.

In Ihrem ersten Buch spricht der Ich-Erzähler mit Bäumen. Kennen Sie diese Erfahrung?

In der arabischen Kultur spricht man mit den Bäumen. Man nimmt Bäume auch als Zeugen eines Gespräches. Man behandelt Bäume bisweilen, als wären sie Teil der Familie. Sie leben und erleben, sie hören und hören mit. Gegenüber meinem Haus hier in Frauenfeld stehen Linden, auf meinem Balkon steht eine Palme. Wenn ich diese Bäume sehe, bin ich mir bewusst, dass sie andere Dimensionen kennen, andere Zeiten erlebt haben. Wenn ich unter einem Baum stehe, passiert etwas in mir.

Wenn ich diese Bäume sehe, bin ich mir bewusst, dass sie andere Dimensionen kennen, andere Zeiten erlebt haben.


Was passiert dann mit Ihnen?

Mir ist nicht wichtig zu wissen, was genau passiert. Wichtig ist zu spüren, dass etwas passiert. Ich bin nicht derselbe Mensch, wenn ich einen Wald durchquert habe. Bäume beeinflussen unsere Gefühle, unsere Sprache, unsere Befindlichkeit. Das spüre ich, wenn ich unter einem Baum sitze. Das alles ist, wie mit einem Baum zu sprechen, auch wenn die Worte fehlen.

In einem Bericht von SRF sagen Sie: «Literatur ist die einzige Möglichkeit, Gedanken zu verändern, die Welt zu verbessern und die Zukunft zu gestalten.» Kann Literatur wirklich die Welt verbessern?

Ja, Literatur kann die Welt zeigen. Schriftsteller:innen versuchen, Texte zu schaffen, um andere Welten zu zeigen, aber auch, um ein klares Bild von dieser Welt zu geben, um zu zeigen, wo wir leben und was fehlt. Ich beschäftige mich seit ein paar Monaten mit dem Thema Rassismus in der Literatur. Da bin ich sehr dankbar, grossartige Texte zu lesen, die mir das näher bringen, sodass ich die Probleme von den Wurzeln her verstehe. Das ist eine Aufgabe der Literatur.

Nehmen wir den Krieg Ukraine. Was kann Literatur in dieser Situation bewirken?

Der Krieg führt uns zur Literatur, indem wir uns fragen: Was war das? Was sind die Gründe? Was hat man darüber geschrieben? Wie können wir einander besser verstehen? Was können wir in Zukunft tun? Literatur ist nicht nur Unterhaltung. Sie hat die grosse Verantwortung, den Menschen zu zeigen, wie sie sind. Wo unsere Hoffnungen liegen, und welches die Stärken und die Schwächen dieser Welt sind.

Haben Sie einen Bezug zu Religion?

Ich unterscheide zwischen Glauben und Religion. Religion ist Politik, da mische ich mich nicht ein. Glaube jedoch ist da: Ich glaube an die Freundschaft, an das Wort, an die Bäume, an ein Gespräch, an das Lachen eines Kindes. Ich kann nicht ohne diesen Glauben leben.

Sie sprechen und schreiben fliessend Deutsch. Was hat Ihnen am meisten geholfen, Deutsch zu lernen?

Mein akademischer Hintergrund hat mir geholfen: Ich weiss, wie man eine Sprache lernt. Auch die Liebe zur Sprache hat mir geholfen, nicht nur zur deutschen Sprache, sondern zur Sprache an sich. Sie ist ein Kommunikationsmittel, aber auch ein Wunder, das die Menschheit entdeckt hat.

Arbeiten Sie bereits an einem nächsten Buch?

«Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt», so heisst mein nächster Roman. Er erscheint am 26. August. Das Buch handelt von einem irakischen Akademiker, der in der Schweiz versucht zurechtzukommen und aufzuarbeiten, was er in seiner Heimat erlebt hat. Er lebt in zwei Kulturen und zwischen zwei Kulturen. 

 

Usama Al Shahmani, 1971 in Bagdad geboren, hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert. Er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 wegen eines Theaterstücks fliehen musste und in die Schweiz kam. Al Shahmani lebt in Frauenfeld, er schreibt auf Deutsch. Seit 2021 ist er Literaturkritiker beim «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens SRF. Ende August erscheint sein dritter Roman.

Hinweis: Usama Al Shahmani liest am 25. August in Zusammenarbeit mit dem aki Bern aus seinen beiden Romanen «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» und «Im Fallen lernt die Feder fliegen».  18.30 Uhr, im Garten des aki, Alpeneggstrasse 5, 3012 Bern. 

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