Foto: Michael Shannon / Unsplash

Am Rand

Abgrund als Ort der Gottesnähe

Ich kann die Patientin kaum wiedererkennen. Kürzlich hatte ich sie als hellwache Frau kennengelernt, sie hat mir über ihr Ringen mit dem Glauben erzählt. Nach der Operation nun liegt sie auf der Intensivstation und ist im Delirium. So nennt man diesen Zustand der Unruhe, Angst, und Halluzinationen – die Patient*innen sind in einem anderen Bewusstseinszustand und erleben ihre Situation oft als äusserst bedrohlich.

Heute begrüsst mich die Frau so: «Sie lügen, ich sehe es Ihren Augen an. Sie sind da, um mich zu plagen.» Es scheint ihr vieles zu entgleiten, sie ist am Rand ihrer selbst.

Ich bin erleichtert, als mir endlich einfällt, wie die Frau das letzte Mal ihren Konfirmationsspruch erwähnt hatte, dass er ihr immer ein treuer Begleiter gewesen sei: «Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äussersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten» (Ps 139,9).

Ich zitiere ihn auch jetzt wieder. Die Frau reagiert darauf erstaunlicherweise mit einem Nicken und wirkt einen Moment entspannt.

Und ich bin einmal mehr dankbar für unser biblisches Erbe, wo der Rand, der Abgrund, die Grenze immer als ein Ort der Gottesnähe gedacht wird.

Kaspar Junker, ref. Seelsorger

Gedanken aus der Spitalseelsorge im Überblick

Diese Website nutzt Cookies. Durch die weitere Nutzung der Site stimmen Sie deren Verwendung zu und akzeptieren unsere Datenschutzrichtlinien.