Völkerverständigung, die unter die Haut geht. Bassam Aramin (2.v.l.) und Rami Elhanan (r.) im Haus der Religionen in Bern. Foto: Steve Wenger

«Apeirogon»

Die Väter der ermordeten Töchter wurden zu Brüdern

Wie herzerschütternd der Satz «Wir sind alle Menschen» wirkt, führte die Veranstaltung mit Bassam Aramin und Rami Elhanan im Haus der Religionen vor Augen. Der Palästinenser und der Israeli verloren ihre Töchter im Nahostkonflikt – und fanden zueinander. Das Buch «Apeirogon» handelt davon.

Von Christina Burghagen

Bis auf den letzten Sitz und Treppenabsatz besetzt, folgten vergangene Woche rund 300 Gäste im Haus der Religionen der Lesung aus dem Roman «Apeirogon» und den berührenden Ausführungen von Bassam Aramin und Rami Elhanan. Eingeleitet wurde die Veranstaltung von der Schauspielerin Nikola Weisse, die aus dem Buch des britischen Schriftstellers Colum McCann Passagen ausgewählt hatte, die auf poetische Weise behutsam auf die politische Situation zwischen Israel und Palästina einstimmten.

Der Mittelteil des Buchs besteht aus den Erzählungen der beiden Männer. Andere Teile sind frei erzählt, wie die vom Hochseilartist Philippe Petit, der eine Taube bei seinem Gang übers Hinnomtal mitnahm. In schwindelnder Höhe versuchte Petit die Friedenstaube fliegen zu lassen, doch das Tier liess sich erst auf seinem Kopf, dann auf der Balancierstange nieder. «Das rechte Hosenbein war mit dem Hellblau Israels geschmückt, das linke mit den Farben der palästinensischen Flagge ... Hatte die Taube nie fliegen gelernt?»

Das Gleichnis von der Friedenstaube, die nicht fliegen will, versetzte das Publikum in nachdenkliches Schweigen.

Krieg mitten im Alltag

Moderiert von Matthias Hui, Redaktor der «Neuen Wege» übernahmen nun der Palästinenser Bassam Aramin und der Israeli Rami Elhanan die Bühne – sie verbindet das gleiche tragische Schicksal: Beide verloren eines ihrer Kinder im Nahostkonflikt.

Abir Aramin, Bassams Tochter, wurde im Januar 2007 von einem Gummigeschoss tödlich am Kopf getroffen, als sie an der Hand ihrer älteren Schwester die Schule verliess, um Süssigkeiten zu kaufen. Das Geschoss wurde von einem israelischen Grenzsoldaten abgefeuert. Sie starb im Alter von zehn Jahren, nachdem sie zwei Tage im Koma gelegen war.

Smadar Elhanan, Ramis Tochter, starb im September 1997, knapp zwei Wochen vor ihrem 14. Geburtstag. Als sie mit Freundinnen Schulbücher für den bevorstehenden Schulanfang kaufen wollte, zündeten zwei palästinensische Selbstmordattentäter ihre Sprengstoffgürtel in einer belebten Fussgängerzone in Jerusalem.

Rami und Bassam bezeichnen sich als Brüder. Schon vor Bassams Schicksalsschlag waren sie befreundet. Am Krankenbett von Abir auf der Intensivstation hofften, beteten und trauerten die Familien von Bassam und Rami gemeinsam. Die beiden Männer wurden Mitglieder der Organisation „Parents Circle – Families Forum“, die Angehörige von Opfern des israelisch-palästinensischen Konflikts zusammenbringt. Mit dem Ziel, dass ihre Töchter die letzten sein sollten, die dem seit über 60 Jahren andauernden Konflikt zum Opfer fielen, treten sie für Frieden ein.

Friede ist unteilbar

Die Biographien der Väter sind eng mit den Konflikten und Kriegen Israels verknüpft. Beide durchlebten den in der Region üblichen Weg, Rami Elhanan war überzeugter israelischer Soldat, der in drei Kriegen kämpfte. Bassam Aramin wuchs in den palästinensischen Widerstandskampf hinein und sass sieben Jahre in einem israelischen Gefängnis.

Der Verlust ihrer Töchter und ihr starkes Engagement für eine gleichberechtigte Gesellschaft in Israel und Palästina führt die beiden Männer, die sich Brüder nennen, in viele Länder, um Frieden und Freiheit in ihr Land zu bringen.

Einerseits hochprofessionell, andererseits unter die Haut gehend erzählten beide ihre Geschichte. Erstaunlicherweise kamen dabei weder Charme noch Humor zu kurz, besonders, wenn es um die Beziehung zwischen sich als «Brüder» ging. «Dieser palästinensische Terrorist ist mein engster Freund geworden», sagte Elhanan fast zärtlich, dessen Vater 1946 aus Auschwitz nach Israel kam.

Bassam Aramin betonte, dass es unsagbar wichtig sei über den Holocaust Bescheid zu wissen. Er habe beigebracht bekommen, dass der Völkermord an den Juden eine Lüge sei. «Das kann doch nicht wahr sein – das ist unmenschlich!», habe er gedacht. Als er sich damit beschäftigte und auch KZ-Gedenkstätten in Europa besuchte, sei ihm klar geworden, welche Angst die Israelis treibt.

«Meine Enkel sollen sagen können, dass ich mein Bestes gegeben habe», beschrieb der vierfache Grossvater seine Haltung. Beide folgen dem Credo: «Zwischen richtig und falsch gibt es ein Feld – lass uns dort treffen!»
 

Der Abend fand im Haus der Religionen – Dialog der Kulturen statt in Zusammenarbeit mit Ina autra senda – Swiss Friends of Combatants for Peace und den Schweizer Freunden und Freundinnen von Neve Shalom – Wahat Al Salam.
Das Buch «Apeirogon» von Colum McCann ist im Rowohlt-Verlag erschienen, ist Spiegel-Bestseller und kostet 12 CHF als Taschenbuch, gebunden 38.90 CHF.

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