Tatjana Disteli freut sich, «dass sich alle Themen im Abschlussdokument wiederfinden, die das Schweizer Statement in Prag einbrachte». Foto: Felix Wey

«Aussagen der Weltsynode zur Interreligiosität sind revolutionär»

Tatjana Disteli zum Abschluss der Weltsynode in Rom

Die Generalsekretärin der Katholischen Kirche Aargau, Tatjana Disteli, war Delegierte an der Europäischen Kontinentalsynode in Prag. Die Weltsynode in Rom hat sie aus der Schweiz mitverfolgt. Sie schreibe das Zweite Vatikanische Konzil weiter, indem sie alle Menschen einbeziehe, sagt Disteli.

Interview: Regula Pfeifer, kath.ch

Was für einen allgemeinen Eindruck haben Sie vom Ergebnis der Weltsynode?

Tatjana Disteli*: Die katholische Weltkirche hat drei Schritte vorwärts gemacht – sie ist im Dialog mit der Welt des 21. Jahrhunderts angekommen. Das Pontifikat dieses pastoral ausgerichteten Papstes strebt damit seinem Höhepunkt entgegen.

Wie meinen Sie das?

Papst Franziskus ist ein geistliches Oberhaupt, das die Zeichen der Zeit erkennt. Er stellt nicht die Gesetzesgerechtigkeit in den Mittelpunkt, sondern den Menschen in seiner Beziehung zu Gott und zu seinen Mitmenschen.

Zieht der Vatikan mit?

Ja, das sehe ich so. Die römische Kurie zeigt heute ein differenziertes Glaubensverständnis und ein Sendungsbewusstsein für die konkrete Gegenwart. Sie schreibt das Zweite Vatikanischen Konzil weiter, indem sie den Glaubenssinn des Volkes einbezieht und die absolute Priorität des doppelten Liebesgebots herausstreicht. Daran hängt das ganze Gesetz und die Propheten. In der heutigen Abschlussmesse wurde dann auch folgerichtig dieses Evangelium verkündet.

Ist es besser oder schlechter als die Zwischenergebnisse am Treffen in Prag?

Bevor die Schweizer Delegation nach Prag reiste, träumte ich, was das Wichtigste sei, dorthin mitzunehmen: das Herz. Ich weiss, das klingt naiv. Doch in Prag zeigte sich bereits am ersten Tag, unter welchem Grundtenor die Begegnungen stattfinden sollten: von Christenmensch zu Christen­mensch, in grösstmöglicher Offenheit und ungeachtet des hierarchischen Amtes. Alle bisherigen Tabuthemen lagen auf dem Tisch. Innen die neue angstfreie Diskussionskultur, draussen tobten Krieg, Erdbeben und Hunger.

Die römische Weltsynode zeigt nun die direkte Fortschreibung dieser Erfahrung der Kontinental­synoden. Sie baut darauf auf, entwickelt sich thematisch und theologisch weiter und öffnet sich auf die Welt hin.

Woran erkennen Sie das?

Nach der Abstimmung zu den 20 Absätzen des Abschlussdokuments sind nun die definitiv zu klärenden Themen gesetzt, dahinter geht man nicht zurück. Und die beachtlich hohen Mehrheitsaus­sagen sind klar und deutlich.

Zu über 90 Prozent spricht sich die weltweite Versammlung gegen Strukturen aus, die sexualisierte Gewalt fördern, für die Partizipation der Lai:innen sowie für Transparenz und Rechenschaftspflicht im Bischofsamt. Beinahe ebenso deutlich spricht sie sich für die stärkere Bedeutung der anderen Hälfte der Gläubigen, der Frauen, aus.

Was ist mit den Themen Frauenpriestertum oder Frauendiakonat und LGBTQ+?

Einzig diese beiden Themen sind kontrovers. Für die weitere Behandlung des Frauen­dia­konats stimmten 80,1 Prozent, also deutlich mehr als die nötige Zweidrittelsmehrheit, immerhin. Zum anderen hält das Dokument fest, dass sich die Synode gegen den Ausschluss von Gläubigen mit anderer sexueller Orientierung wendet, sich also grundsätzlich gegen Diskriminierung positioniert! Gender wird zum Thema gemacht, wenn auch mit indirekter Terminologie – dahinter sehe ich strategisches Bemühen. Das direkte adressieren hiesse: Menschenrechte. So weit sind wir noch nicht.

Aber, es freut mich, dass sich damit alle Themen im Abschlussdokument wiederfinden, die das Schweizer Statement in Prag einbrachte.

Was überrascht Sie positiv?

Endlich: Der Brief der Synode an das Volk erwähnt ausdrücklich, dass allen Menschen zugehört werden soll, allen vorab den Opfern des Missbrauchs durch die Kirche selbst, allen, die in der Gesellschaft kein Recht haben, sich zu äussern oder die sich, sogar von der Kirche selbst, ausgeschlossen fühlen. Das ist der Perspektivenwechsel, die klare Haltungsänderung in Richtung einer neuen glaubwürdigen Kirche.

Weiter beginnt das Abschlussdokument mit der Anrede: «Liebe Schwestern, liebe Brüder». Beides zeigt, dass die Kirchenspitze mit Papst Franziskus und seinen vertrauten Kardinälen Hollerich und Grech ernsthaft erkannt haben, dass sich die Kirche selbst im Seelsorgegespräch mit Gott befindet. Sie erfährt Synodalität als heilsames geistliches Werkzeug der eigenen Umkehr. Und es gibt noch mehr Positives.

Was denn?

Um theologisch in die Tiefe zu gehen – also, um die Unterscheidung der Geister voranzutreiben, wie die Synode es sagt – sollen die Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte aus Exegese und Kirchengeschichte miteinbezogen werden. Das Lehramt öffnet sich endlich den neueren Erkenntnissen der theologi­schen Wissenschaft und verschliesst sich auch nicht weiter dem Beizug der Humanwissenschaften.

Und noch mehr: Die Synode begann bewusst unter dem Segen des ökumenischen Taizégebets. Die Kirche fühlt sich nachhaltig in einem hohen Masse dem Weg der Ökumene und dem interreligiösen Dialog verpflichtet: Es solle viel stärker das Einende betont werden als das Trennende, heisst es im Abschlussdokument.

Und noch expliziter – auch das erinnert an das Vaticanum II. – die Synode sei sich bewusst, dass der Geist durch Frauen und Männer jeder Religion, jeden Glaubens und jeder Kultur sprechen könne. Das ist revolutionär in einer Welt, die durch religiösen Fanatismus in Angst und Schrecken versetzt wird: Alle Hochreligionen, alle Menschen guten Willens werden zum Frieden aufgerufen!

Was ärgert und enttäuscht?

Im ersten Moment war ich sehr enttäuscht, das Thema Frauenpriestertum nicht vorzufinden. Nach Jahrzehnten des Wartens wird nun das Diakonat der Frau neu, aber stiefmütterlich, zum Thema gemacht. Das ist keine Anerkennung der weiblichen Berufung.

Im näheren Studium des Dokuments wurde mir allerdings bewusst: Der Boden ist bereitet. In der Zwischenzeit muss die weibliche Geduld auf irgendeine Art und Weise genährt werden. In der Zukunft kann ich mir eine neue Lösung vorstellen: Vielleicht wird das Priestertum diakonischer und das Diakonenamt liturgischer? Beide Vollzüge gehören zusammen. Das Charisma der jeweiligen Person könnte das eine oder andere betonen, aber beide Dienste arbeiten eng zusammen.

Ändert sich etwas am Pflichtzölibat für Priester?

Der Pflichtzölibat wird nicht mehr als wesentliches Glaubensgut, sondern als etwas Kulturelles und Veränderbares angesehen. Ja, ich denke, hier wird die Pflicht weiter in Frage gestellt – und wohl fallen.

Verbessert sich nun die Situation der Frauen in der Kirche?

Solange die ergraute Theologie der Wesensverschiedenheiten von Mann und Frau vorherrscht, wartet die volle Mitbestimmung und Mitverantwortung der Frau hinter verschlossenen Türen. Doch ich bin überzeugt davon, dass die Erkenntnis zum revolutionären Umgang Jesu mit den Frauen seiner Zeit den Klerus zur Gewissheit führen wird, dass der jetzige Zustand weder Kirche noch Menschheit dient.

Frauen sind ebenso Apostelinnen, Lehrerinnen, Zeuginnen des Glaubens. Sie blieben treu, als es um Leben und Tod ging – und vieles mehr. Dass die Schweizer Pfarreien grossmehrheitlich von Frauen getragen werden, muss ich hier nicht betonen. Persönlich kann ich nicht nachvollziehen, wie man davon ausgehen kann, dass das biologische Geschlecht Jesu überzeitliches wesentliches Merkmal des Priestertums sein sollte.

Mit anderen Worten: Der Boden ist bereitet, das Arbeiten und Warten geht weiter. Es ist für die Frauen rund um die Welt schwer, ob der Marginalisierung nicht endgültig die Geduld zu verlieren. Wir wissen das aus allen Kontinenten. Nächstens erscheint dazu eine Herder-Publikation. Die harten Skeptiker:innen sind übrigens eher im alten Europa zu Hause, als in Afrika, Südamerika oder Asien. Das sollte zu denken geben.

Wie geht es weiter?

Die zu klärenden Themenbereiche wurden mit klugen Fragen versehen, welche alle Fraktionen in der Kirche auffordern, sie in Bezug zum Höchsten Gebot der Gottes- und Nächstenliebe  zu setzen. So kann es gelingen, alle in diesem Entwicklungsprozess mitzunehmen.

Nun kommt alles darauf an, dass in unserem Land gut kommuniziert wird. Die Synode ruft die Ortskirchen dazu auf, die Themen, Fragen und Vorschläge des Dokuments auf Basis der erreichten Konvergenzen zu vertiefen, «in der geistlichen Unterscheidung, der theologischen Vertiefung und der pastoralen Übung.» Und wir brauchen in dieser Vertrauenskrise authentische Vorbilder, echte Hoffnungszeichen für Kirche und Gesellschaft.

Papst Franziskus schloss die Eucharistiefeier gestern mit den Worten: «Lasst uns eine anbetende und dienende Kirche sein, die der verwundeten Menschheit die Füsse wäscht. Auf geht’s, mit Freude!»

* Die Theologin Tatjana Disteli ist Generalsekretärin der Katholischen Kirche im Aargau und engagiert sich auf verschiedenen Ebenen im synodalen Prozess der katholischen Kirche. Im letzten Februar reiste sie als eine von drei Schweizer Delegierten an das europäische synodale Treffen in Prag.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

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