2021 leisteten die 165 Mitglieder des Care Teams Kanton Bern bei 354 Ereignissen insgesamt 613 Einsätze. Foto: Pia Neuenschwander

«Bagger stürzte auf Intercity-Zug»

Ein Übungstag mit dem Care-Team Kanton Bern

Best of 2022: Die Redaktion publiziert ihre besten Artikel nochmals

(20.04.22)In Artikeln mit solchen Schlagzeilen liest man oft: «Die Betroffenen wurden von einem Care-Team betreut». Was sich hinter diesem Satz verbirgt, erfuhren Besucher:innen aus der Trägerschaft des Care Teams Kanton Bern (CTKB) an einem Übungstag.

Von Sylvia Stam

«Es hat einfach geknallt», sagt ein junger Mann. Er schaut zu Boden und hält sich mit beiden Händen die Ohren zu. «Samuel ist nach vorne geflogen, er hat sich bestimmt verletzt!», fährt er erregt fort.

Die Dame neben ihm blickt unruhig umher. «Sind viele Leute verletzt?», fragt sie den Mann vom Care-Team, der ebenfalls in der Runde sitzt. «Was wir bis jetzt wissen: Es gibt zwei Tote», entgegnet dieser ruhig. «Aber doch nicht mein Mann!?», fragt die Dame sichtlich besorgt. «Wir wissen noch nichts Näheres, im Moment müssen wir abwarten», sagt der Care-Giver. Plötzlich steht der junge Mann auf, läuft raschen Schrittes zur Tür und ruft energisch «Könnt ihr mir endlich sagen, wo Samuel Manser ist?» Der Care-Giver läuft ihm nach, spricht mit ihm, dann kommen beide zurück und setzen sich wieder.

Erfundener Unfall

Es ist morgens um 10.35 Uhr. Wir befinden uns in einem Raum des Amts für Bevölkerungsschutz, Sport und Militär (BSM) auf dem Kasernenareal in Bern, wo an diesem Vormittag eine Weiterbildungsübung für das CTKB stattfindet. Der für diese Übung erfundene Unfall hat morgens um 7.50 Uhr stattgefunden: Ein Bagger, der auf einer Baustelle an einem Zubringer zur A6 stand, ist auf die darunter liegenden Gleise gestürzt. Just in dem Moment fuhr der IC Thun-Bern vorbei und raste in den Bagger. Der Lokführer war sofort tot, ein verletzter Fahrgast verstarb nach der Einlieferung ins Spital. Es gab rund 50 Verletzte und über 50 Unverletzte.

Was die Besucher:innen an diesem Morgen in wenigen Sätzen erfahren, ist in Realität ein detailliert koordinierter Prozess zwischen Polizei, Feuerwehr, Sanität, SBB und Care-Team: Der tote Zugführer sowie die verletzten und unverletzten Personen wurden aus dem Zug geholt und an einen je eigenen Sammelplatz gebracht – im Fachjargon heisst das «Opferkanalisation». Auch das «Streugut» – das sind Schirme, Taschen und andere Gegenstände, die an der Unfallstelle liegen geblieben sind ­– wird gesammelt und registriert. Während die Verletzten von der Sanität betreut und je nach Verletzung auf die Spitäler verteilt werden, werden die Unverletzten in ein Betreuungszentrum gebracht. Hier werden sie von der Polizei erfasst und in kleinere Gruppen aufgeteilt, die je von mehreren Personen des Care-Teams betreut werden. Die eingangs geschilderte Szene spielte sich im Betreuungszentrum ab.

Die psychische Gesundheit stärken

«Das Care-Team begleitet Menschen in den ersten 24 Stunden nach einem Notfall», erklärt Irmela Moser, Leiterin des Care-Teams Bern, den Besucher:innen des Übungstages. «Es geht darum, die psychische Gesundheit der Betroffenen zu stärken, bei uns steht also die Seele im Zentrum. Kirchlich wird das mit dem Begriff 'Diakonie' ausgedrückt.» Etwas proasischer formuliert es Hanspeter von Flüe. Der Vorsteher des BSM nennt die Arbeit des Care-Teams eine «psychosoziale Notfallapotheke».

Konkret bedeutet das, die Betroffenen meist durch Gespräche zu stabilisieren, ihnen zuzuhören, sie aber auch in der Bewältigung des Erlebten zu fördern. «Wir versuchen, die Selbstverantwortung der Betroffenen möglichst rasch zu reaktivieren», erläutert Moser, «damit sie nicht in der Opferrolle bleiben.» Dazu gehöre auch die Frage: «Zu wem gehst du, wenn es dir übermorgen nicht besser geht?»

Wenn die Person psychisch stabil sei, könne sie grundsätzlich nach Hause gehen. «Im Betreuungszentrum gibt es Informationen, etwa über verstorbene oder verletzte Personen, aber auch über verlorene Gegenstände. Das lässt die Betroffenen oft noch länger hier bleiben.» Im Idealfall würden sie schliesslich von Angehörigen abgeholt.

 

Täglich ein Ereignis
2021 leisteten die 165 Mitglieder des Care Teams Kanton Bern (CTKB) bei 354 Ereignissen insgesamt 613 Einsätze. Davon standen 80 Prozent in Zusammenhang mit Todesfällen. Betreut wurden in rund 1500 Arbeitsstunden 3000 Personen aller Altersgruppen. Von den 165 Mitgliedern sind laut Moser etwa 60 «Care Profis», dies sind Psycholog:innen, Psychiatriepfleger:innen und 17 Theolog:innen.  Die übrigen rund 100 «Care Givers» kommen aus verschiedenen Berufen, darunter Pflegefachleute, Anwältinnen und Lastwagenchauffeure. Die Tätigkeit im CTKB gilt als freiwilliger Schutzdienst (analog etwa zum Zivilschutz). Die aufgewendete Zeit gilt somit als Arbeitszeit, wofür der/die Arbeitgeber:in Gelder aus der Erwerbsersatzordnung erhält. Zur Trägerschaft gehört das Amt für Bevölkerungsschutz, Sport und Militär sowie die Interkonfessionelle Konferenz des Kantons Bern, zu der die drei Landeskirchen und die jüdische Gemeinde gehören. sys

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