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Beten

Eine Kolumne der Seelsorger*innen am Inselspital Bern. Von Patrick Schafer.

 

«Unglaublich und unfair» sei die Situation. «Wie soll es bloss weitergehen, wenn das nicht gut kommt»; «er ist doch noch viel zu jung zum Sterben!»

Die Erwachsenen sprechen aus, was sie fühlen – die Kinder schweigen. Zwei der Kinder streicheln dem Vater über den Arm und schauen auf die Apparaturen, welche zuverlässig und regelmässig verschiedene Signaltöne von sich geben. Der dritte und jüngste Sohn steht etwas abseits und beobachtet das Treiben, das sich am Krankenbett seines Vaters abspielt.

Während den Gesprächen mit den Erwachsenen schaue ich immer wieder zu dem Kleinen rüber, beobachte ihn, um entsprechend reagieren zu können, falls eine Intervention nötig wird. Lange bleibt er ruhig stehen und sagt dann ganz unerwartet: «Ich habe Durst, kann ich eine Cola haben?» So gehen wir zusammen zum Warteraum, und ich folge ihm, wie er zielstrebig auf den Getränkeautomaten zu marschiert. Anschliessend setzen wir uns auf ein Sofa, er schlürft genüsslich an seiner Colaflasche und rasch entsteht ein Gespräch. Er gehe in die erste Klasse und spiele gern Fussball, zu Hause sei es ...

Er erzählt und scheinbar vergisst er für einen Moment, in welcher Situation er und seine Familie sich hier befinden – so glaube ich jedenfalls zu wissen! Mehrmals rennt er zur Toilette und verschwindet kurz. Das kommt mir etwas merkwürdig vor, deshalb spreche ich ihn darauf an. Es sei alles gut bei ihm, so versichert er mir. Er gehe bloss zur Toilette, um dort zu beten. Warum er denn zur Toilette gehe, um zu beten, beten könne er doch auch hier, sage ich. «Nein, das geht nicht.» Er habe das in der Schule gemacht und da hätten alle gelacht. Nun gehe er halt immer zur Toilette, sodass es niemand sehe.

Ich konnte nicht glauben (und er tat mir leid), dass seine «Gspändli» ihn ausgelacht haben, als er für seinen kranken Vater beten wollte. Ich konnte mir das einfach nicht vorstellen! Es musste einen anderen Grund haben. So fragte ich ihn, ob er mir denn zeigen könne, wie er betet. Wie ein Erstkommunikant im Kirchenbank kommt er mir vor, als er kniend, die Hände gefaltet, die Augen geschlossen vor mir ist und sich bemüht, ein Vaterunser zu sprechen. Dieses Bild löst bei mir verschiedene, ganz unterschiedliche Emotionen aus. Ich bin berührt, betroffen, beschämt – und spüre den Wunsch, dem Kleinen helfen zu wollen. Wo er denn so beten gelernt habe, möchte ich wissen. «Von meiner Grossmutter und im Religionsunterricht», sagt er. Ich versuche mich an religionspädagogisches Wissen, was ich einmal gelernt habe, zu erinnern, und beginne mit meiner einfachen Katechese. Man kann auf ganz unterschiedliche Art beten. Jeder soll die Form finden, welche für einen selber stimmig ist. Da gibt es kein richtig oder falsch. Man unterscheidet zwischen Dank- und Bittgebet, und ein Gebet sei doch nichts anderes als ein Gespräch mit Gott-Vater, Gott-Mutter, und dass es absolut in Ordnung sei, wenn er für dieses Gespräch seine eigenen Worte gebrauche, grad so, «wie ihm der Schnabel gewachsen sei».

Plötzlich wird der Siebenjährige ganz still. Wir sitzen stumm nebeneinander. Nach einer Weile frage ich ihn, was ihm denn nun durch den Kopf gehe, an was er denke? Nach einer weiteren, kurzen Zeit des Schweigens sagt er: Er habe an nichts gedacht, er habe gebetet!

Patrick Schafer, kath. Seelsorger

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