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Brandbeschleuniger oder Feuerlöscher?

Wie ist es um die Friedfertigkeit der Religionen bestellt?

In einer Religion ist kein Platz für Gewalt. Sollte man denken. Kriege und Anschläge im Namen des Glaubens belegen das Gegenteil. Religion begegnet uns derzeit vor allem in Zusammenhang mit ­Konflikten – doch wie ist es eigentlich um den Frieden bestellt, den alle grossen Religionen zu ihrem Grundthema erklären?  

von Reto Stampfli*

Der 7. Oktober 2023 wirkte wie ein Paukenschlag: Am jüdischen Feiertag Simchat Tora, mit dem die Sukkot-Festwoche zu Ende geht, erschütterte ein unerwarteter Gewaltexzess die Weltöffentlichkeit. 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg überrumpelte die Terror­organisation Hamas den Nachbarn Israel. Das alles geschieht in einer Region, in der ­Politik und Religion nicht ohne Weiteres ­auseinandergehalten werden können.

Die schrecklichen Bilder aus Israel und Palästina werfen erneut die Fragen nach der Rolle der Religionen und der Verantwortung ihrer Vertreter auf. Bestialische Taten, begleitet von Allahu-Akbar-­Rufen, eine gezielte Dämonisierung der Andersgläubigen, religiöse Besitzansprüche – es scheint, dass hier die Religionen vor allem als Brandbeschleuniger wirken.

Tatsächlich wurden und werden die Religionen und ihre Lehren immer wieder instrumentalisiert. Es gibt in den heiligen Schriften einzelne Verse oder auch ganze Geschichten, in denen ­Gewalt als etwas Positives überliefert wird. Darauf kann von den Rädelsführern und Stimmungsmachern manipulativ zurückgegriffen werden. Der fundamentalistische Missbrauch von Religion ist augenfällig. Das Vertrackte daran ist: Die religiösen Fanatiker nehmen dabei «ihre» Religion in eine Art Geiselhaft, wenn sie sich zur Begründung ihrer Gräueltaten auf sie berufen.

Eine blutige Geschichte

Der Blick in die Weltgeschichte zeigt auf, dass die verschiedenen Religionen für jegliche Formen religiöser Gewaltlegitimation anfällig waren, je nach ihrem grundsätzlichen Verhältnis zur Gewalt, nach ihrer geschichtlichen Prägung, ihrem aktuellen Verhältnis zur Idee der Menschenrechte und der Trennung von Staat und Religion. Eine klare Einordnung, welche Religion wie viel Gewalt mitgetragen oder hervorgerufen hat, ist nicht möglich. So mobilisierten zum Beispiel die katholischen Autoritäten zusammen mit den militärischen Machthabern ein starkes Gewaltpotential, als sie im 11. Jahrhundert zum Kreuzzug aufriefen.

Aus historischer Sicht erscheinen die Kreuzzüge natürlich weit entfernt von den gegenwärtigen Ereignissen. Die religiös geprägten Eskalationsmechanismen hingegen zeigen eine auffällige Nähe zu heutigen Konflikten, denn die Aussicht auf Selbstläuterung und rücksichtslose Aufopferung im Austausch für das eigene Heil hat ihre Mobilisierungskraft auch heute noch nicht verloren. 

Täter oder Opfer?

Doch ist die Religion oft nicht einfach ein Deckmantel für politische und kriegerische Absichten? Oder ist sie sogar ein naives Opfer geschickter Manipulation? Der emeritierte deutsche Theologe und Soziologe Detlef Pollack bemerkt dazu: «Religion ist nicht das Unschuldige und Politik gewissermassen schuldig, weil Religion nur benutzt werde.»

Umfragen zeigten, führt Pollack weiter aus, dass Gewalt immer wieder religiös legitimiert werde und auch hier eine eigenständige Quelle der Gewaltverschärfung sein könne: «Es gibt sehr viele Menschen, die sagen, dass religiöse Lehren über den rechtlichen Bestimmungen eines demokratischen Staates stehen. Oder sie sagen, dass nur ihre Religion die wahre ist.» Von religionskritischer Seite wird Gewalt sogar als genereller Teil des Menschen angesehen, der sich in religiösen Formen Ausdruck verschaffen kann; die Religion fungiere hierbei als Magnet, der die Gewalt des Menschen anzieht und bindet. So behauptet zum Beispiel der atheistische Philosoph Michael Schmidt-Salomon, dass Religionen zwar Frieden predigen, ihr Wahrheitsanspruch jedoch immer zu Abgrenzungen führe. 

Kann Religion helfen?

Die besondere Bedeutung der Weltreligionen liegt darin, dass ihr Ethos und ihre Heilsversprechen grenzüberschreitend sind. Grundsätzlich durchbricht der Glaube ethnische, nationale und kulturelle Grenzen und stellt die Gleichheit und Zusammengehörigkeit aller Menschen in den Vordergrund. Judentum, Christentum und Islam eint ein egalitäres Menschheitsideal, das in diesen schwierigen Zeiten fruchtbar gemacht werden müsste. Dieses ideelle Potenzial der Religionen könnte dem Terrorismus entgegengehalten werden, der seinerseits skrupellos Grenzen zieht, diskriminiert und tötet. Hier könnten die Religionen in der Funktion des Feuerlöschers nützlich sein.

Doch wie können Religionen nach aussen auf Frieden hinwirken, wenn sie im Inneren intolerant sind und keine zivilisierte Streitkultur pflegen? Das Christentum hat an diesem Punkt den Muslimen höchstens zeitlich etwas voraus. Der ökumenische Friede, der zwischen den Konfessionen glücklicherweise herrscht, musste über Jahrhunderte stabilisiert werden. Diesen Weg hat der weltweite Islam noch vor sich. Aber es liegt im Interesse der ganzen Welt, die Muslime auf diesem Weg interreligiös und politisch zu unterstützen. Nur auf diese Weise wird man den Islam aus der Geiselhaft der Terroristen befreien können und dem Frieden ein Stück näherkommen.

Zwar gibt es auch im Islam eine lange Geschichte der Religionskritik, aber das scheint in jüngster Zeit vergessen gegangen zu sein. Die Islamwissenschaftlerin ­Katajun Amirpur ergänzt dazu: «Religions­kritik ist bezogen auf den Islam sicherlich kein Spezifikum der westlichen, säkularen Neuzeit. Aber wir haben wohl verlernt, damit umzugehen. Die grossartige Debattenkultur, die durch Zweifel, Skeptizismus, Hadern und Fragen gezeichnet war, ist uns heute verloren gegangen, wo das Verketzern zu einem Mittel der politischen Auseinandersetzung geworden ist.» 

Frieden fördern

Um ihrer den Frieden fördernden Aufgabe nachkommen zu können, müssen die Religionen indes selbst glaubwürdig sein. Meines Erachtens gilt es in diesem Zusammenhang drei Dinge zu beachten: Zum einen muss das Gewaltpotenzial, das in den Religionen angelegt ist, aufgezeigt und bewusst verarbeitet werden. Das hat viel mit religiöser Bildung zu tun und mit dem Austausch mit anderen Religionsgemeinschaften. Auch die Unabhängigkeit von Politik und Staat spielt eine zentrale Rolle. In einem zweiten Schritt müssen die vorhandenen Friedenskompetenzen ausgebaut werden.

Fast immer stehen Menschen im Mittelpunkt, die durch ihre religiöse Überzeugung eine bestimmte Situation nicht hinnehmen wollen, die Frieden schaffen wollen, im eigenen Umfeld oder irgendwo auf der Welt. Es herrscht aber allgemein ein grosses Unwissen über religiöse Friedensarbeit in politischen Gewaltkonflikten, denn weder Beispiele noch konkrete Interventionsmethoden sind weitherum bekannt.

Viele Katholiken haben zum Beispiel keine Ahnung, dass der Vatikan vor Jahren einen blutigen Krieg zwischen Argentinien und Chile verhindert hat. Und erinnern sich die Protestanten in Deutschland noch daran, dass das friedliche Ende der DDR ohne die evangelische Kirche kaum denkbar gewesen wäre? Das Verhältnis der Religionen zum Frieden ist ambivalent. Sie haben Potenzial in beide Richtungen. Gut, dass die Religionen deshalb noch einen dritten wichtigen Aspekt kennen: die Fürsorge für die Opfer von Gewalt und Unrecht – und die Hoffnung auf ihre Rettung. Eindrücklich fasst das die Bergpredigt zusammen: «Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden. Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich» (Matthäus 5,9–10).  


*Erstpublikation im Kirchenblatt für römisch-katholische Pfarreien im Kanton Solothurn, 5.11.23

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