«Religion veranlasst uns, aktiv für das Lebensaufbauende zu werden.» Helge Burggrabe.
Foto: Kathrin Becker

«Zerstören ist eine viel einfachere Tätigkeit als Aufbauen»

Ein Gespräch mit Helge Burggrabe über den Halt in schweren Zeiten

Helge Burggrabe möchte mit Musik, Wort und Lichtspiel Räume schaffen, die das Leben fördern und den Menschen zum inneren Frieden verhelfen. Er hat Oratorien für sakrale Räume komponiert und weltlichen Themen wie den UN Menschenrechten eine Melodie gegeben. Aktuell hat er die Liebe zur Freiheit in der Konzert-Lesung «Cato» vertont. Im Gespräch erklärt er, wie wir Halt finden können in schweren Zeiten.

von Daniela M. Meier

Im Gefängnis schrieb Cato Bontjes van Beek 1943 einen Abschiedsbrief an ihre Mutter – nur wenige Stunden vor ihrer Hinrichtung durch das Fallbeil. Darin schrieb sie: «Die Menschen sind alle lieb und gut, das weiss ich und glaube ich.» Die 22-Jährige hatte Flugblätter verteilt, mit denen sie die Bevölkerung zum Widerstand gegen die Nationalsozialisten (NS) aufrief, und deshalb wurde sie vom Militärgericht zum Tode verurteilt.

In den Monaten zwischen der Verurteilung und der Hinrichtung beschäftigte sich Cato mit dem Neuen Testament und schien daraus die Stärke zu ziehen, um ihr Schicksal anzunehmen. Ihre Liebe zum Leben und zur Freiheit hat der Komponist Helge Burggrabe in der Konzert-Lesung «Cato» verdichtet, indem er Briefe und Tagebucheinträge von ihr verwendete. Diese bettete er in Musikstücke ein, die der jungen Frau viel bedeutet hatten.

Die Konzert-Lesung wurde am 12. November im fast voll besetzten Berner Münster mit international bekannten Schauspieler:innen und dem Vokalensemble «Sjaella» aus Leipzig aufgeführt. Viele im Publikum waren sichtlich berührt, wie sich die lebenshungrige Cato gefasst ihrem Schicksal stellte.

«Woher nur zog sie diese Kraft und konnte an das Gute im Menschen glauben?», fragte ich Helge Burggrabe im Gespräch einige Tage nach dem Konzert. In den Texten zeige sich, dass Cato auch verzweifelte Momente hatte, aber das mache sie auch menschlich und nahbar, antwortet Burggrabe. Man sollte Cato nicht idealisieren, findet er, aber «was spannend ist, wie Cato unter bedrängenden und schwierigen Umständen Halt fand.

Was gibt einem in einer solchen Situation Trost – ja: Zuversicht? Cato hatte inneren Halt, der über das menschliche Dasein hinausweist. Sie hatte diesen Halt auch in Schriften von Friedensstiftern wiedergefunden. Für sie als Christin war dieses Grössere, das ihr Zuversicht gab, Gott.» Trotzdem mag es uns heute überraschen, dass Cato schrieb, der Mensch sei lieb und gut. Sie schien überzeugt davon zu sein, dass der Mensch im Innersten das Potenzial hat, lebensfördernd zu sein.

Verbindung zu etwas Grösserem

Nach Ansicht von Burggrabe unterstützen die UN-Menschenrechte dieses Potenzial, deshalb hat er ihnen zum 75. Jubiläum eine Melodie verliehen und dazu das Kulturprojekt «Human» lanciert. Das Projekt ermuntert Orchester und Tanzgruppen, die Menschenrechte aufzuführen und dabei sich selber wie auch ihr Publikum zu einem Leben in Frieden zu bewegen.

Braucht das Gute eine Präsenz auf der Bühne, damit es in der verunsicherten Gesellschaft nicht vergessen geht? Burggrabe findet, dass wir für das Gute schon etwas tun müssten und ein starkes Angebot habe die Religion dafür: «Religio bedeutet Rückbindung. Das heisst eine Anbindung an eine grössere Wirklichkeit, die in Raum und Zeit hineinwirkt – und damit auch in unseren Alltag hinein. Wir sind ein Teil von etwas Grösserem und diese Anbindung relativiert ein Stück weit unsere alltägliche Wirklichkeit.

Die Religion hilft uns, eine innere Stärke zu finden und bei den vielen negativen Nachrichten trotzdem in einer Haltung zu bleiben, die uns lebensfähig macht. Sie veranlasst uns, aktiv für das Lebensaufbauende zu werden.» Deshalb wäre es so wichtig, dass die Kirchen den Menschen zur Seite stehen und ihnen diese Anbindung vermitteln würden, statt sich mit sich selbst zu beschäftigen.

Burggrabe geht es in seinen Werken nicht darum, Abgründe einfach auszublenden oder sie zu bekämpfen. Im Buch zum «Human»-Projekt steht, dass wir in einer Welt der Gegensätze von Gut und Böse um uns herum wie auch in uns selber leben. Es sei an uns, diese Gegensätze auszuhalten und sie zu vereinen. Wie gelingt uns das?

Wenn man sich das Leben anschaue, gehöre Licht und Schatten dazu, antwortet Burggrabe, aber wer seine Schattenseiten und Schwächen kenne, werde demütiger und bescheidener. Er erläutert: «Es gäbe gar kein Empfinden für den Tag, wenn es nicht die Nacht gäbe. Aber im Menschlichen untereinander stelle ich mir die Frage: Was fördert Leben und was vernichtet es? Das Zerstören ist eine viel einfachere Tätigkeit als das Aufbauen – so ist ein Stück Wald innerhalb eines Tages gerodet, aber es braucht 70 Jahre, bis es wieder in seiner Pracht dasteht.»

Burggrabe möchte nicht im Licht-Schatten-Gegensatz haften bleiben, sondern den Schattierungen nachgehen und sie auskosten. Darin liege die Chance für eine Veränderung, bei einem selbst im Innern und nach aussen hin, findet er.

Kraftvolle Stille

Räume für eine solche Veränderung möchte Burggrabe mit den Mitteln der Kunst wie Musik, Wort und Lichtspiel schaffen. Dabei spielt Spiritualität für ihn, der vom Buddhismus zum Christentum konvertierte, eine wichtige Rolle. Mit dem «Hagios»-Projekt möchte er Menschen ermuntern, gemeinsam zu singen und dadurch Räume für das Heilende und Heilige im Alltag zu öffnen. Dafür hat er Lieder komponiert, die sich mehrmals wiederholen wie früher die Gesänge im Kloster oder in der Tradition von Taizé; Singende berichten, dass sie dabei eine tiefe und kraftvolle Ruhe erfahren.

Ganz wichtig für Burggrabe ist die Stille zwischen den Liedern, weil diese den Singenden erlaube, sich zu sammeln und einen inneren Frieden zu erfahren – in Resonanz zu sein. Unter Resonanz versteht Burggrabe die Fähigkeit, offen zu sein für Begegnungen mit anderen Menschen und sich von ihnen berühren zu lassen.

Heisst das, dass alle im «Ein-Klang» sein sollten? «Nicht unbedingt», schmunzelt Burggrabe, «auch die Menschen, die einem das Leben schwer machen, können einem helfen zu wachsen.» Aber beim Singen können wir uns selbst als Instrument erleben, das durchklungen wird von der grösseren Wirklichkeit. Dann würden wir mit ihr mitschwingen wie ein Musikinstrument, also mit ihr in Resonanz gehen.

Zwischen den Gesängen sei die Stille deshalb zentral, weil sie alle Klänge in sich vereine. «Alle Musik geht wieder in die Stille zurück und deswegen ist die Stille eine Türe zur grösseren Wirklichkeit oder Gott. Meister Eckhart sagte, dass die Stille die Sprache Gottes sei.»

Wie wir dem Göttlichen begegnen können, thematisiert Burggrabes Dreikönigsoratorium, das im September 2022 im Kölner Dom uraufgeführt wurde. Es beschreibt den «Weg des Herzens» zu Gottes Gegenwart: die drei Könige sehnen sich nach dem Licht, machen sich auf die Suche und bewältigen unterwegs alle Widrigkeiten und Verirrungen, bis sie bei der Krippe ankommen, wo sie im Herzen vom Göttlichen berührt werden.

 

Helge Burggrabe (*1973) ist Komponist, Flötist und Initiator von Kulturprojekten wie dem «Human International Culture Project», das Musik, Tanz und Menschenrechtsbildung verbindet. Auch als Komponist geistlicher Werke wie «Stella Maris» für die Kathedrale von Chartres (2006), dem Friedensoratorium «Lux in tenebris» (Dom zu Hildesheim 2015), dem «Dreikönigsoratorium» (Kölner Dom 2022) oder der Musik-Text-Collage «Cato» über die Widerstandskämpferin Cato Bontjes van Beek, u. a. aufgeführt im Berner Münster, sowie dem Liederzyklus «Hagios» machte er sich einen Namen.

Alle Werke und Musiknoten von Helge Burggrabe können bestellt werden auf www.burggrabe.de.

«HAGIOS»- Gesungenes Gebet (auf YouTube) oder in der Pauluskirche, Freiestrasse 8, 3012 Bern: 13. Januar, 2. März, 4. Mai, jeweils 15.00.

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