«In der katholischen Kirche gibt es Normen, die Übergriffigkeit vorschreiben», sagt Doris Reisinger. Foto: Andrea Schombara

Doris Reisinger über spirituellen Missbrauch: Den Glauben selbstbestimmt leben

Spiritueller Missbrauch beginnt, wenn Menschen in ihrer geistlichen Autonomie verletzt werden, sagt Fachfrau Doris Reisinger.

Spiritueller Missbrauch beginnt, wenn Menschen in ihrer geistlichen Autonomie verletzt werden, sagt Fachfrau Doris Reisinger.

Interview: Sylvia Stam

«pfarrblatt»: Spiritueller Missbrauch bedeutet im Kern die Verletzung der spirituellen Autonomie eines Menschen. Können Sie ein Beispiel aus dem Pfarreileben nennen?

Doris Reisinger: Nehmen wir die Vorbereitung zur Erstkommunion. Laut Kirchenrecht gilt die Pflicht zur Beichte vor der Erstkommunion*. Das Kind will vielleicht zur Erstkommunion, aber nicht zuerst beichten. Ein Kind zu nötigen, dass es einem fremden Erwachsenen das eigene Gewissensleben offenlegt, obwohl es das eindeutig nicht will, ist ein gewaltsamer Übergriff in das geistliche Innenleben dieses Kindes.

Dann darf die Kirche keine Bedingung stellen, bevor sie ein Sakrament wie die Firmung oder die Erstkommunion spendet?

Es ist doch merkwürdig, dass diese Bedingung einer verpflichtenden Beichte gerade für Kinder gilt. Niemand sonst hat je eine Pflicht zur Beichte in der Form, dass ihm ein Termin vorgeschrieben wird, bei dem der Priester auf sein Bekenntnis wartet, und er dann nur zur Kommunion gehen darf, wenn er diesen Termin wahrgenommen hat. Nicht einmal Straftäter werden gezwungen zur Beichte zu gehen, bevor sie kommunizieren dürfen. Wir wissen, dass das für Kinder oft belastend ist, viele haben Angst davor oder wissen nicht, was sie sagen sollen.

Sollen Menschen denn unvorbereitet Sakramente empfangen?

Natürlich kommt es vor, dass Menschen nicht bereit sind für den Empfang eines Sakraments. Aber was genau heisst «bereit»? Und wie soll diese Bereitschaft sichergestellt und überprüft werden? Eine innere Bereitschaft kann man von aussen nicht sicherstellen. Das muss den Menschen und ihrem Gewissen überlassen bleiben. Ausnahmen gelten für Sakramente, die zugleich Rechtsakte sind. Beispielsweise bei der Priesterweihe oder bei der Eheschliessung spielen durchaus überprüfbare Dinge wie das Alter eine Rolle in Bezug auf die Eignung der Kandidaten.

Es gibt in der katholischen Kirche die Pflicht, sonntags in den Gottesdienst zu gehen. Ist das demnach auch übergriffig?

Ja. Eine Gottesdienstteilnahme muss dem eigenen, freien Willen entspringen. Wenn es zur Pflicht wird, die einer sozialen Kontrolle unterliegt und mit Druckmitteln durchgesetzt wird, dann ist diese Freiwilligkeit in Frage gestellt. Auch hier steckt die Idee dahinter, man könnte von aussen feststellen, dass jemand einen bestimmten Glaubensakt vollzogen hat. Das geht aber nicht.

Dann schreibt das Kirchenrecht also spirituell missbräuchliches Verhalten vor.

Ja, in der katholischen Kirche gibt es Normen und ein Kirchenbild, die diese Übergriffigkeit vorschreiben. Die Vorstellung, dass die kirchliche Autorität das Recht und die Pflicht hat, in das Innere der Menschen einzugreifen, um den Glauben zu schützen, ist tief in der Kirche verankert. Dies steht aber quer zu einem theologischen und seelsorgerlichen Konsens, der besagt, dass man Glaubensakte nicht erzwingen kann und dass Glaube überhaupt nur dort möglich ist, wo er aus freien Stücken vollzogen wird.

Die katholische Kirche kennt also zwei widersprüchliche Traditionen?

Ja, wir haben eine autoritäre, tendenziell übergriffige Traditionslinie und wir haben eine freiheitliche, die das Gewissen und die Freiheit der Menschen respektiert. Diese beiden  Linien sind inkompatibel. Dieser Widerspruch macht die Beschäftigung mit spirituellem Missbrauch so explosiv. Wenn man das Thema ernst nimmt, müssten kirchliche Normen revidiert werden.

Wie kann Kirche dann als Gemeinschaft von Gläubigen bestehen, wenn jede/r glauben kann, was er oder sie will? Braucht es nicht eine Instanz, die den Glauben «hütet»?

Das sind zwei verschiedene Themen. Es geht einerseits um Glaubensinhalte, die wir als Gemeinschaft der Gläubigen der katholischen Kirche pflegen. Da ist durchaus eine Vielfalt vorhanden, und doch gibt es Grenzen, wo man sagen kann: Das ist katholisch oder nicht, das ist christlich oder nicht. 

Aber wenn wir über geistlichen Missbrauch und Autonomie sprechen, geht es vor allem darum, dass Menschen ihr persönliches Glaubensleben frei führen dürfen. Wenn ein Mensch aufhört, in den Gottesdienst zu gehen, oder eine bestimmte Gebetstradition zugunsten einer anderen beendet, wer hätte ein Recht, diese Person davon abzuhalten?

Was sind mögliche Folgen spirituellen Missbrauchs?

Eine Person, die erlebt hat, dass das spirituelle Leben benutzt wird, um sie unfrei zu machen, läuft Gefahr, dass sie sich in diesem Bereich ihres Lebens nicht gut entwickelt. Sie hat vielleicht Denkweisen verinnerlicht, die sie schwer belasten, die sie aber trotzdem nicht ablegen kann, oder sie schiebt alles, was mit Spiritualität zu tun hat, weg, obwohl sie gleichzeitig ein Bedürfnis nach Spiritualität hat. Manchmal hat spiritueller Missbrauch auch echte behandlungsbedürftige Traumata zur Folge, die im Einzelfall lebensbedrohlich werden können.

Oft hört man, sexuellem Missbrauch gehe spiritueller Missbrauch voraus. Können Sie das anhand eines Beispiels erläutern?

Ein typisches Beispiel wäre ein Priester, der eine geistliche Bewegung oder Gemeinschaft gründet. Er hat die Aura einer Gründerfigur und schreibt jungen Leuten in dieser Gemeinschaft eine Spiritualität vor, in der es darum geht, Grenzen zu überschreiten. Dinge aufzugeben, die man niemals hätte aufgeben wollen,  weil Gott angeblich mehr von ihnen verlangt. Der Priester fordert dann zum Beispiel, dass ein Mitglied ein Familienfoto wegwirft, um nicht mehr innerlich daran gebunden zu sein. Auf solche geistlichen Übergriffe können sexuelle folgen: «Gott will, dass wir keine Grenzen voreinander haben. Du musst bereit sein, dich zu entkleiden, körperliche Berührungen zuzulassen». Diese sexuellen Übergriffe funktionieren nur, weil vorher schon andere Grenzen überschritten wurden.

In diesem Beispiel verwechselt der Geistliche zudem seine Stimme mit der Stimme Gottes, wie Klaus Mertes spirituellen Missbrauch definiert.

Es gibt Täter:innen, die tatsächlich glauben, dass Gott das von ihnen will, dass sie das müssen oder dürfen. Es gibt aber auch solche, die genau wissen, dass das nur eine Erzählung ist, die sie dazu benutzen, um andere zu missbrauchen. 

Kann spiritueller Missbrauch geahndet werden?

Wir haben keine vernünftigen kirchenrechtlichen Grundlagen, um Sanktionen zu ergreifen. Manche Übergriffe werden kirchenrechtlich sogar verlangt. Wir brauchen also eigentlich eine Revision kirchlicher Normen. Solange es die nicht gibt, braucht es zumindest eine Sensibilisierung und Qualitätsstandards in der Seelsorge: Es muss ganz klar sein, was geht und was nicht, wo es übergriffig oder missbräuchlich wird.

Das Bistum Basel verweist für Fälle spirituellen Missbrauchs an eine unabhängige Koordinationsperson, eine Rechtsanwältin. Diese ist verpflichtet, bei Verdacht auf ein Offizialdelikt den Bischof zur Strafanzeige aufzufordern. Für wie sinnvoll halten Sie dies?

Spiritueller Missbrauch ist im weltlichen Recht an keiner Stelle geklärt. Hier muss erst eine grundlegende Klärung stattfinden. Zudem ist es eine Engführung, dass es um Straftaten gehen muss und Strafverfahren geführt werden müssen. Bei spirituellem Missbrauch ist das weder hilfreich noch nötig. Solche Verfahrenswege können leicht zu Frust führen, weil es dann heisst: «Das ist nicht relevant.» Dabei liegt bei spirituellem Missbrauch eine klare Verletzung vor, und es steht eine echte Gefahr durch die beschuldigte Person im Raum, mit der Vorgesetzte vorausschauend umgehen müssen.

Braucht es also eigene Anlaufstellen für spirituellen Missbrauch?

Es kann genügen, wenn man die Anlaufstellen für sexuellen Missbrauch so ausbaut, dass sie auch für spirituellen Missbrauch kompetent sind. Dazu braucht es theologisch und seelsorgerlich geschulte und pastoralpsychologisch ausgebildete Menschen. Allerdings brauchen auch diese Personen eine normative Grundlage, sodass man sagen kann, nach diesen oder jenen Kriterien definieren wir «Übergriff».

Das Bistum Chur hat eine Charta zum Umgang mit Macht. Könnte das eine solche normative Grundlage sein?

Das ist ein erster, fundamentaler Schritt. Zu klären wäre dann noch, wie die Charta umgesetzt wird und wie sich das in das Gesamtrecht der katholischen Kirche einfügt.

Was wären aus Ihrer Sicht weitere nötige Schritte in der Prävention?

Der allerwichtigste Schritt wäre, dass die Kirche ihre eigenen Normen überdenkt. Dass möglichst alle Vorgaben, die Übergriffe in das Innenleben von Menschen normalisieren, abgeschafft werden.

Das wäre eine Veränderung des Kirchenrechts, aber auch der Glaubenslehre.

Bei der Glaubenslehre bräuchte es eine klare Entscheidung für eine der beiden sich widersprechenden Traditionslinien. Die Kirche ist an einem historischen Entscheidungspunkt: Steht sie dafür, dass Menschen in die Spur gebracht werden müssen, notfalls mit Gewalt? Oder steht sie dafür, dass Menschen in Freiheit einen Glauben leben, der wirklich von Gott kommt, der gar keine Gewalt braucht? Die Entscheidung für letzteres wäre notwendig, um wirksam Prävention zu betreiben.

Sehen Sie Ansätze, dass die Kirche sich in diese Richtung entwickelt?

Ich glaube, dass die Institution gar nicht in der Lage ist, sich in diese Richtung zu entwickeln. Und trotzdem entwickeln sich Teile der Kirche in diese Richtung. Es gibt ein echtes Auseinanderdriften der Kirche, das man beklagen kann, das aber unvermeidlich ist. Die Herausforderung wird sein, dass die Menschen, die in eine freiheitliche Richtung gehen wollen, sich selber ein institutionelles normatives Gefüge geben müssen, aber eines, das dieser Freiheitlichkeit entspringt und sie trägt.

Viele Seelsorgende leiten Pfarreien und sind somit auch Vorgesetzte. Spannungen mit dem Chef/der Chefin gehören zum Berufsalltag. Wie ist das zu bewerten, wenn ein Seelsorger seiner Sekretärin in einem Konfliktfall rät, das Evangelium zu konsultieren? 

Dieses Vergeistlichen von Konflikten ist ein grosses Problem in der Kirche. Wenn Vorgesetzte in einem Konflikt auf der Arbeitsebene keine Sachargumente haben, wechseln sie oft auf die geistliche Ebene. Damit weichen sie dem aus, worum es eigentlich geht.

Würden Sie das auch spirituellen Missbrauch nennen?

Das hängt vom Einzelfall ab. Wenn einer Person, die auf der Sachebene gute Argumente für ihr Anliegen hat, auf einer geistlichen Ebene der Mund verboten wird, ist das doppelter Missbrauch: Die Person wird auf übergiffige Weise in ihrem geistlichen Leben berührt und das Geistliche wird missbraucht, um eine Sachdiskussion zu unterbinden.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Einer Sekretärin werden Überstunden nicht ausbezahlt, obschon sie ein Recht darauf hätte. Wenn das mit der Begründung erfolgt, die Sekretärin solle dies als eine Form von Kreuzesnachfolge oder Hingabe an die Kirche betrachten, dann ist das ein manifester geistlicher Übergriff. Denn ihre Vorgesetzten haben ihr grundsätzlich nicht vorzugeben, wie sie ihr Leben geistlich zu deuten hat. Zweitens ist es ein Missbrauch des Geistlichen, das hier benutzt wird, um ein Unrecht zu rechtfertigen.


*Die Praxis zur Hinführung zum Sakramentenempfang ist im Bistum Basel nicht starr vorgeschrieben. In vielen Pfarreien wird das Sakrament der Versöhnung nach der Erstkommunion gefeiert.

Die Theologin Doris Reisinger (geb. Wagner, *1983) ist Autorin der Buches «Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche» und Beraterin der Anlaufstelle «Gewalt in der Kirche» der deutschen Bischofskonferenz.

 

Erst am Anfang
«Beim Thema spirituelle Gewalt sind wir erst am Anfang», sagte Bischof Joseph Bonnemain laut dem Portal kath.ch an einer Fachtagung in Wien. Die Richtlinien der Schweizer Bischofskonferenz sollen dahingehend überarbeitet und ergänzt werden. «Das Bistum Basel konzeptioniert gerade Vertiefungsseminare, die die Prävention spiritueller Gewalt mitberücksichtigen», sagte Sieglinde Kliemen, Präventionsbeauftragte dieses Bistums, an derselben Tagung. Ansprechpersonen explizit für spirituellen Missbrauch kennt nur das Bistum St. Gallen. Das Bistum Basel verweist auf die unabhängige Koordinationsperson. Das Bistum Chur thematisiert spirituellen Missbrauch in seinem Verhaltenskodex, Betroffene werden auf das Fachgremium sexuelle Übergriffe, staatliche Opferhilfestellen und die Betroffenenorganisation IG Miku verwiesen. Diese unterstützt Betroffene auch bei spirituellem Missbrauch.
missbrauch-kirche.ch

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