Aus «Liebe, Wut & Milchzähne» (2023). Standbild: Domenik Schuster

«Der Erziehungsautomat kommt wie ein Paukenschlag»

Dokumentarfilme für Eltern

In den Dokumentarfilmen «Good enough parents» und «Liebe, Wut & Milchzähne» sucht Domenik Schuster neue Antworten darauf, was Kinder brauchen und was in Eltern wirkt. Ein Gespräch über Bindung, Bedürfnisse und Erziehungsmythen.

Interview: Anouk Hiedl

«pfarrblatt»: Als junger Vater wurden Sie mit Mythen und vermeintlichen Ratschlägen dazu konfrontiert, was Kinder «wirklich» brauchen. Was hat Sie seinerzeit besonders überrascht?

Domenik Schuster:
Vor allem meine eigenen vermeintlichen Überzeugungen. Etwa, dass ich davon ausging, dass ein Baby durch Entzug von Nähe – dem klassischen «Da muss er jetzt mal durch, sonst schläft er nie allein ein!» – Selbstständigkeit erlangt. Dabei ist Zugewandtheit mein Wunsch in Beziehungen, zumindest unter Erwachsenen. Dass ich diesen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen bzw. Erwachsenen unter sich machte, hat mich überrascht und war der Startpunkt für meine Filme.

In «Good enough parents» zeigen Sie überholte Erziehungsweisheiten und neue Irrtümer, auf die Sie gestossen sind. Wie unterscheiden sich diese alten und neuen Ansichten?

In beiden Fällen versuchen Menschen mehr oder weniger vernünftige Antworten darauf zu geben, was Kinder brauchen. Diese Frage muss jeder Elternteil unbedingt individuell beantworten. Mit meinen Filmen versuche ich, Eltern in diesem Prozess Orientierungshilfe zu geben. Leitstern sind dabei die Erkenntnisse der Bindungsforschung. Mit Erziehung zu frühestmöglicher Selbstständigkeit oder frühestmöglicher naturwissenschaftlicher Bildung für Kinder können ihre ganz basalen Bedürfnisse aus dem Blick geraten. Ich möchte dafür sensibilisieren, dass kindliche Grundbedürfnisse die Basis ihrer ganzen weiteren Entwicklung sind.

In «Liebe, Wut und Milchzähne» hinterfragen Sie den drohenden «Erziehungsautomaten» in Ihnen, der das Verhalten Ihrer Kinder ändern will. Inwiefern sind Sie diesem auf die Schliche gekommen?

Wohl fast alle Eltern, die ein Kind in der Autonomiephase begleiten, kommen mal an diesen Punkt: Ein alltäglicher Konflikt entfesselt sich, der Stress steigt, und plötzlich wirft man mit Worten und Blicken um sich, die man schon wenige Minuten später bereut. Dieses Verhalten kommt oft wie ein Paukenschlag. Mehr als diesem Automatismus muss man den Auslösern dafür auf die Schliche kommen. Damit meine ich nicht, was das Kind tut, sondern das, was unsere Kinder damit in uns ansprechen. Dieser Prozess ist herausfordernd und lehrreich – für die ganze Familie.


Inwiefern unterscheiden Sie sich heute vom Vater, der Sie anfangs waren?

Ich weiss mittlerweile, was mir wichtig ist. Ich habe Werte definiert, die meine Entscheidungen für und Reaktionen auf meine Kinder stark beeinflussen. Das hat seine Zeit gebraucht. Die daraus entstandene Klarheit hilft meinen Kindern einzuschätzen: Was ist Papa wichtig? Was nicht? Wo sind Spielräume? Und mir hilft sie, zu wissen, wozu ich unmissverständlich ja oder nein sage. Im Rahmen meiner Filmarbeit durfte ich mich mit Fachleuten unterhalten, die mich als Vater geprägt haben. Ich teile diese Erkenntnisse gern und hoffe, damit einigen Eltern eine Abkürzung zu bieten. Den ganzen Weg kann und will ich niemandem abnehmen.

Welche Erfahrung hat Sie besonders geprägt?

Ein grosser Streit mit meinem ältesten Sohn, der damals fünf war. Ein lautstarker Zwist mit seinem jüngeren Bruder ging unserem Konflikt voran. Ich stürmte ins Zimmer und wollte das Ganze beenden – natürlich nicht, ohne einen Schuldigen für die Situation zu benennen. Dieses Los, das oft ältere Geschwister ziehen, empfand er zu Recht als ungerecht. Er wurde wütend. Ich wurde wütend. Irgendwann ging ich aus dem Zimmer, und plötzlich schlug mein Gefühl um: in Traurigkeit über die Beziehung zu meinem Vater.

Das war es, was Minuten zuvor in mir gewirkt hatte. Ich sass da, hörte, wie mein Sohn im Nebenzimmer weinte, und mir flossen die Tränen übers Gesicht. Nach kurzem ging ich zu ihm und entschuldigte mich. Das war das letzte Mal, das ich ihn so verletzt habe. Diskussionen haben wir weiterhin fast täglich. Es geht nicht darum, keine Konflikte zu haben, sondern darum, Konflikte zu führen, ohne sich gegenseitig zu verletzen.

Welchen Einfluss hatte die Mutter Ihrer Kinder auf Ihre zwei Filme?

Meine Frau Sarah hat mich durch ihre Begleitung unserer Kinder überhaupt erst auf die Idee gebracht, dass man über Babies und kleine Kinder ganz anders denken kann, als ich es tat. Sie war mir Vorbild und Herausforderung zugleich, weil sie vieles so anders sah als ich. Ohne sie wäre es für mich niemals zu diesem Umbruch als Vater gekommen.

Ihr ältester Sohn ist heute zehn. Wie hat er auf Ihre Filme reagiert?

Bei der Premiere von «Liebe, Wut & Milchzähne» sass er neben mir und amüsierte sich köstlich über den Erziehungsautomaten. Beim Dreh bediente er die Nebelmaschine, die in diesem Automaten steckt. «Erziehungsautomat» ist in unserer Familie ein fester Begriff für Momente geworden, in denen wir Erwachsenen uns ganz anders verhalten, als wir es eigentlich wollen. Es kann sehr hilfreich sein, Bilder und Worte für solche Situationen zu haben, um mit Kindern darüber zu sprechen.

Autorität durch Beziehung

Die Berner Mütter- und Väterberatung zeigt in einer kantonalen Filmreihe, wie wichtig Nähe und eine bedürfnisgerechte Erziehung für Kinder sind. Philippe Häni über die Filmauswahl und seine Erfahrungen – als Väterberater und Vater.

Aufgezeichnet von Anouk Hiedl

Philippe Häni: «Die Filme ‹Good enough parents› und ‹Liebe, Wut & Milchzähne› zeigen persönlich und sehr einfühlsam, welche Fragen heute viele Eltern beschäftigen. Domenik Schuster lässt darin Fachleute zu Wort kommen, die dazu ermutigen, Kinder bindungs- und bedürfnisorientiert zu begleiten und zu erziehen. Eltern möchten eine vertrauens- und liebevolle Beziehung zu ihren Kindern aufbauen. Viele setzen dazu auf Autorität durch Beziehung statt Zwang. Das Ziel scheint klar, doch der Weg dorthin ist weit weniger deutlich, birgt Stolpersteine und erfordert eine persönliche Auseinandersetzung.

Die Filmabende und Diskussionen danach bieten eine gute Gelegenheit dazu und zeigen, dass Eltern mit vielen Fragen nicht allein sind. Als Vater übe auch ich im Alltag schnell mal mit drohenden Wenn-Dann-Phrasen Druck auf meine Kinder aus, um ein gewünschtes Verhalten zu erzwingen – obwohl ich als Väterberater wissen sollte, wie man es richtig macht.

Einschränkende Prägungen in der Erziehung hinter sich zu lassen, ist anspruchsvoll. Wenn ich in meinen Beratungen deutlich mache, dass auch ich diese Schwierigkeiten kenne, wirkt dies authentisch und oft entlastend. Auf Augenhöhe können wir danach gemeinsam Handlungsalternativen entwickeln.

In den Dokus unserer Filmreihe greift Domenik Schuster aktuelle Fragen in der Erziehung im Frühbereich auf. Er geht diesen nach und sucht nach Antworten ohne Patentrezepte aufzuzwingen. Seine Filme leisten einen wichtigen Beitrag dazu, eigene Standpunkte zu entwickeln. Es bleibt die Aufgabe jeden Elternteils, diese Positionen selbst zu finden und zu verkörpern.»

Filmreihe: Wie kann bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung gelingen?

Chino Worb, jeweils von 19.30 bis 21.45
Di, 27. Februar: «Good enough parents» (D/f) – Was Kinder brauchen
Do, 21. März: «Liebe, Wut & Milchzähne» (D/f) – Was in uns Eltern wirkt

Berner Generationenhaus, jeweils von 18.00 bis 20.15
Di, 4. März: «Good enough parents» (D/f) – Was Kinder brauchen
Do, 4. April: «Liebe, Wut & Milchzähne» (D/f) – Was in uns Eltern wirkt 

Danach gibt es jeweils eine moderierte Diskussion mit der Mütter- und Väterberatung des Kantons Bern und die Möglichkeit zum gemeinsamen Austausch.

Weitere kostenlose Filmabende in Biel, Burgdorf und Thun. Daten und Anmeldung: www.mvb-be.ch, Rubrik «Aktuelles»
Weitere Infos zu beiden Filmen: www.goodenoughparents.de

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