Foto: Joseph Chan / unsplash.com

Der Herr ist mein Hirte ...

Kolumne aus der Inselspitalseelsorge

Viele von Ihnen, liebe Leser:innen, werden inwendig auswendig fortfahren können: Mir wird nichts mangeln ... Es ist der Beginn des vielleicht bekanntesten Psalms, Nummer 23. Und obwohl ich durchaus kein Schaf bin, folglich auch lieber keinen Hirten vor die Nase gesetzt bekomme, liebe ich die Schönheit der Bilder des Psalms sehr. Man muss sie sich auf der Zunge zergehen lassen: Auf einer grünen Weide liegen – einen rechten Weg gehen – zu frischem Wasser geführt werden – einen köstlich bereiteten Tisch vorfinden – und dann dieses seltene Wort von der «Erquickung» der Seele, worunter ich mir seit Kindheit einfach vage das Allerschönste vorstelle.

Manchmal versuche ich mir vorzustellen, wie viele Menschen in diesem uralten Gebet schon Zuflucht und Stärkung erfahren haben; in wie vielen Situationen die Worte gebetet, gejubelt, gestöhnt, geweint und gesungen wurden. Es ist mir ein Trost, dass ich diese Worte einfach leihen und in sie einstimmen darf, auch dann, wenn mein eigener Glaube gerade nicht selber auf solche Bilder voller Kraft und Schönheit käme. Der Psalm als «Rollator des hinkenden Glaubens», wie der Theologe Fulbert Steffensky einmal gesagt hat.

In einer Gesellschaft des materiellen Überflusses und des Wohlstandes verstehen wir das hier verheissene Leben in Fülle meist ganz bildhaft und spirituell. Eine Patientin, die seit früher Jugend auf der Gasse lebt, dort mit der Drogensucht und nicht selten ums Überleben kämpft, regelmässig im Gefängnis landet, hat mich gerührt mit ihrem Gebet nach Psalm 23, den auch sie auswendig im Herzen trug und die Bilder zu neuem Leben erweckte: «Bei dir Gott ist eine Luxusbude, wie ich es mir nicht vorstellen kann, alles voller Samt und frisch gestrichen, gut geheizt, sodass man auch im Winter nicht frieren muss; es gibt immer zu essen, so viel man will, brauchst dafür nicht einmal in den Knast zu gehen.»

Ihre Augen leuchteten; meine theologische Vollmundigkeit wurde kleinlaut.

Kaspar Junker, ref. Seelsorger

Kolumnen aus der Inselspitalseelsorge im Überblick

Diese Website nutzt Cookies. Durch die weitere Nutzung der Site stimmen Sie deren Verwendung zu und akzeptieren unsere Datenschutzrichtlinien.