Stolpersteine für Céline und Simon Zagiel, die von der Berner Polizei nach Frankreich ausgeschafft wurden. Beide kamen nach Auschwitz. Foto: Pia Neuenschwander

«Der Schatten von Auschwitz reicht bis in die Berner Altstadt»

Erste Stolpersteine in Bern

Genau 100'000 Stolpersteine wurden seit 1996 bisher in 26 Länder gesetzt, um Mordopfern und Verfolgten des Nationalsozialismus ihren Namen und ihre Geschichte zurückzugeben. Am 15. Juni erhielt Bern tagsüber seine ersten fünf Steine, an der Gedenkveranstaltung am Abend bat Bischof Gmür für damalige Versäumnisse um Entschuldigung.

von Hannah Einhaus

«Auschwitz liegt nicht in der Schweiz», sagte Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz 1996, als die Debatte über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und im Holocaust heiss lief. Dass ein Stück Auschwitz doch in der Schweiz liegt, zeigen drei der fünf Geschichten von Menschen in Bern, zu deren Gedenken am 15. Juni Stolpersteine gesetzt werden. Da es sich um den 100‘001. bis 100‘005. Stolperstein in der Geschichte dieses Mahnmals handelte, ist Künstler und Erfinder Gunter Demnig aus Deutschland angereist, um die Steinwürfel mit eingravierter Messingtafel in Bern persönlich mit Mörtel in den Trottoirs einzusetzen.


Die Menschen, die in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten zu Nummern geworden waren, sollen so wieder ihren Namen, ihren Ort und ihre Geschichte erhalten. Bei jeder Steinsetzung zeichnet ein Historiker oder eine Historikerin die Geschichte nach, Angehörige und Schulklassen kommen zu Wort, Berns Rabbiner singt ein Totengebet, und musikalische Klänge untermalen das Ritual.

Wege von Bern in deutsche Konzentrationslager

Drei der fünf nachgezeichneten Lebenswege führten also nach Auschwitz: Jene des 1896 in Bern geborenen und in Paris aufgewachsenen Lucien Leweil-Woog sowie die Geschichte des belgischen Paars Céline und Simon Zagiel, das sich im August 1942 in Bern versteckt hatte und von der hiesigen Polizei zurück nach Frankreich ausgeschafft wurde – in die Hände der deutschen Besatzungsmacht. Alle drei kamen nach Auschwitz. Ihre Stolpersteine an der Spitalgasse 14 und vor dem Regionalgefängnis beim Brunnen an der Hodlerstrasse erinnern laut Historiker Daniel Gerson nun daran, «dass der Schatten von Auschwitz bis in die Berner Altstadt reicht.»


Auch der Weg von Guido Zembsch-Schreve, geboren 1916 am Distelweg 1 in der Länggasse, Sohn einer niederländischen Familie, führte 1944 in drei Konzentrationslager und auf einen Todesmarsch. Der «Special Agent» und Widerstandskämpfer unter dem Pseudonym Pierre Lalande überlebte.

Der Mord in Payerne 1942 und die Verdrängung bis heute

Von Schweizer Rechtsradikalen ermordet wurde der Berner Viehhändler Arthur Bloch am 16. April 1942 auf dem Viehmarkt von Payerne, zuletzt wohnhaft an der Monbijoustrasse 51. Anstifter dieses Mordes war der ehemalige protestantische Pfarrer Philippe Lugrin, er und die fünf Täter wurden zu langen Strafen verurteilt. Laut Gerson funktionierte der Rechtsstaat Schweiz, doch die Gesellschaft habe zum Teil bis heute Mühe mit ihrer Geschichte. Dass dies bei der Stadt Payerne und der protestantischen Kirche des Kantons Waadt zutrifft, bestätigte sich am 15. Juni selbst: Eine Kirchenvertreterin zeigte zwar in Bezug auf Lugrin Bedauern, äusserte aber kein Schuldbekenntnis. Wie das «Pfarrblatt» zudem erfuhr, lehnte der Stadtpräsident die Einladung zu dieser Steinsetzung ab.

«Das Rettungsboot Schweiz war lange nicht voll»

Für mehrere Denkanstösse sorgte die Ausschaffung des jungen jüdischen Ehepaars Simon und Céline Zagiel aus Belgien am 19. August 1942, wenige Tage nach der hermetischen Grenzabriegelung der Schweiz für «Flüchtlinge aus rassischen Gründen». Der Bundesrat und die Eidgenössische Fremdenpolizei waren gemäss den Ausführungen von Historikerin Hannah Einhaus zu diesem Zeitpunkt bereits orientiert über die Vorgänge in den Vernichtungslagern, doch das Paar wurde von Bern ins besetzte Frankreich ausgeschafft, den Nazis in die Hände, und fünf Tage später nach Auschwitz deportiert.


Die 17-jährige Céline wurde sofort vergast, der 21-jährige Simon kam in ein Arbeitslager und überlebte. Die Ausschaffung wurde publik, sorgte für hitzigen Debatten und eine vorübergehende Lockerung bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Über 7000 Menschen erhielten bis Dezember 1942 Zuflucht, darunter auch Simon Zagiels Eltern und Geschwister. In seiner pointierten Rede nannte der Kirchenfeld-Gymnasiast Niels Bärtschi bei dieser Steinsetzung die wahren Motive der Rückweisungspolitik: «Die Obrigkeit wollte aus Prinzip keine Jüdinnen und Juden aufnehmen: Das Land sei vor fortschreitender «Verjudung» und «Überfremdung» zu schützen. (...) Das kleine Rettungsboot Schweiz war lange nicht voll. Es hätte auch Platz für Céline und Simon Zagiel gehabt.»

In seiner Rede erinnerte auch der Historiker und Politiker Josef Lang an der Gedenkveranstaltung am Abend an die damaligen Kapazitäten der Schweiz: Bis Kriegsende habe die Schweiz rund 300‘000 Personen vorübergehend aufgenommen, grossmehrheitlich Militärflüchtlinge, weniger als zehn Prozent Juden.

Die Spitzen der Kirchen entschuldigen sich – geht das?

Rita Famos, Präsidentin des Evangelischen Kirchenbunds Schweiz, warf an der Gedenkfeier im Zentrum Paul Klee am Abend die Frage auf: Haben die protestantischen Kirchen damals genug getan? «Ich bin froh, dass ich heute stolperte. Für das damalige Versäumnis entschuldige ich mich stellvertretend für die reformierten Kirchen.»


Der Präsident der Schweizer Bischofskonferenz und Vorsitzender des Rats der Religionen, Felix Gmür, sagte: «Die Stolpersteine erinnern an Namen, machen die Fäden des individuellen Lebensnetzes sichtbar und gewährleisten Erinnerung über die Gegenwart hinaus. Gegenzeichen dieser Art sind für die ganze Gesellschaft und gerade auch für die Kirchen höchst bedeutsam. Sie haben sich mitschuldig gemacht. Mit Scham verneige ich mich vor den Opfern und bitte im Namen der Kirche um Entschuldigung.» 

Elisabeth Baume-Schneider: «Wir haben eine Pflicht zur Erinnerung»

Und was sagte Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, in deren Büro im EJPD vor 81 Jahren der Beschluss gefasst wurde, dass das kleine Rettungsboot Schweiz voll sei? «Wir haben eine Pflicht zur Erinnerung» lautete ihre klare Botschaft, «denn die Erinnerung an dieses unermessliche Verbrechen muss zeitlos sein und unsere Generationen überdauern.»

Baume-Schneider, die im Jahr 2015 das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau besucht hat, sieht in der Vergangenheit eine «Mahnerin für die Gegenwart», unter anderem dafür, «dass in der Gegenwart und in Zukunft Opfer von Krieg und Terror in unserem Land Schutz finden.» Mit anderen Worten: Für Bundesrätin Baume-Schneider ist das Boot Schweiz nicht voll, darf nicht voll sein.

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