Als Springer – so nennen wir den Einsatz auf einer Abteilung, in der wir als Seelsorgende nicht in der Erstverantwortung stehen – werde ich zu einem Patienten gerufen, der nach langem Spitalaufenthalt und mehreren Operationen ein Gespräch wünscht.
Ich kenne den Mann nicht und weil ich gerade aus einem anderen Einsatz direkt ins Patientenzimmer gehe, habe ich auch keine Vorinformationen. So lasse ich mich überraschen, wen und was ich in dieser Gesprächssituation antreffen werde.
Ich öffne die Zimmertür und bin im ersten Moment erleichtert. Der Patient liegt in einem Doppelzimmer, ist aber alleine im Raum – so können wir uns ungestört unterhalten.
Ich hole mir einen Stuhl ans Bett um mich zu setzen. Der Patient schaut mich längere Zeit an und sagt kein Wort. Was er wohl denkt und wen er sich an sein Krankenbett gewünscht hat für das Gespräch? Ich glaube zu spüren, dass wir uns gegenseitig mustern, um einander einschätzen zu können. Nach einer kurzen Zeit des Schweigens stelle ich eine erste Frage und es fühlt sich an, als hätte ich den ersten Eröffnungszug bei einem Schachbrettspiel gemacht. Sogleich reagiert er mit einer Gegenfrage. Dieses Hin und Her geht noch einige Fragen so weiter, bis er Vertrauen findet und zu erzählen beginnt.
Seit Wochen liege er auf dem Rücken im Bett, starre die Zimmerdecke an, habe schon mehrmals die Deckenbemusterung analysiert und die Löcher der Deckenplatten gezählt. Seine Lähmungserscheinungen nehmen eher zu als ab, so dass er ohne Hilfe der Physiotherapeutin gar nicht mehr aufstehen, geschweige denn selbständig ein paar Schritte gehen könne. Er, der doch so ein Bewegungsmensch sei, ein Berggänger und, und, und…
Ich höre den Worten zu und bin sehr berührt und auch betroffen von dem, was mir dieser Mann erzählt. Immer wieder frage ich mich, was ich diesem Menschen in Not bieten könnte. Was kann ich sagen, was seinen Schmerz etwas lindern vermag oder Hoffnung und Zuversicht spendet? Ich will nicht einfach Worthülsen oder irgendwelche Floskeln erwidern, deshalb schweige ich! Ich schweige und höre ihm geduldig zu.
Nach mehr als einer Stunde wird der Patient vom vielen Reden und Erzählen sichtlich müde. Ich spreche meine Beobachtung an und er bestätigt mir, dass er nun sehr erschöpft sei und gerne etwas schlafen möchte. Beim Verabschieden stellt sich heraus, dass wir uns nicht wiedersehen werden. Morgen soll er in eine andere Klinik verlegt werden. Er bedankt sich und ich verlasse das Zimmer.
Auf dem Weg über den Spitalkorridor klingen die Worte und Erzählungen lange nach bei mir. Ich fühle mich hilflos und frage mich fortwährend, was ich als Seelsorger diesem Menschen in Not hätte bieten können – ob das, was ich in der Situation unserer Begegnung gemacht habe, auch genügt hatte?
Einige Tage später kommt auf derselben Station eine Pflegende auf mich zu. Sie habe den Auftrag erhalten, mir herzliche Grüsse auszurichten. Der Patient sei verlegt worden, er habe aber mehrmals darum gebeten, mir auszurichten, wie gut ihm das Gespräch getan habe und wie dankbar er dafür sei! Ich freue mich sehr über diese Rückmeldung. Einmal mehr wird mir bewusst, dass da zu sein und zuzuhören in manchen Situationen durchaus ein Mehrwert sein kann.
Patrick Schafer, kath. Seelsorger