«Die erste grosse Pestwelle traf ganz Europa kurz vor Mitte des 14. Jahrhunderts äusserst heftig und unvorbereitet – vergleichbar mit der jetzigen Corona-Epidemie.» Foto: Pia Neuenschwander

Die Kirche und die Pest

Angesichts der Coronakrise lohnt sich ein Blick zurück. Angelo Garovi über die Pestwellen im 14. und 15. Jh.

Die immer neuen Pestwellen im 14. und 15. Jahrhundert hatten die Menschen des Mittelalters sehr verunsichert. Die damals stets wieder auftauchenden makabren Totentänze legen davon Zeugnis ab, etwa jener von Niklaus Manuel Deutsch, der in Bern als Kopie erhalten ist.

Von Angelo Garovi

Die erste grosse Pestwelle traf ganz Europa kurz vor Mitte des 14. Jahrhunderts äusserst heftig und unvorbereitet – vergleichbar mit der jetzigen Corona-Epidemie. Im Jahr 1347 wurde die Stadt Caffa auf der Krim von einem Tatarenheer belagert, das durch eine schreckliche Seuche dezimiert wurde. Einem heftigen Fieber «mit Erstarrung der Körpersäfte in den Leisten» – so ein zeitgenössischer Bericht – fielen täglich viele Soldaten zum Opfer. Die belagerten Christ*innen in Caffa konnten zwar fliehen, schleppten aber den Pestbazillus mit nach Italien, nach Messina und Genua. Die Verbreitung über ganz Europa erfolgte unglaublich schnell: 1348 erfasste die Seuche fast ausnahmslos Mittel- und Westeuropa, auch die Schweiz, besonders Basel. Von Norddeutschland aus gelangte sie 1352 sogar nach Russland. Das Entsetzen in den Städten war gross, als beinahe jeder vierte, teilweise sogar jeder zweite Einwohner starb.

Das mittelalterliche Leben war von Pestseuchen geprägt, die kein Medikament mildern konnte, Linderung und Betäubungsmittel fehlten, der Mensch war dem Tod in aller Ohnmacht ausgesetzt.

Der italienische Dichter Giovanni Boccaccio schrieb um 1350 in seinem Novellenzyklus «Decameron»:» «Nur wenige Leichen wurden noch von mehr als zehn oder zwölf Nachbarn zur Kirche geleitet, und auch ihre Bahren wurden nicht mehr von angesehenen und befreundeten Bürgern auf den Schultern getragen, sondern von einer Art Totengräber, die aus der Unterschicht kamen und ihre Dienste sich bezahlen liessen. Sie nahmen die Bahre und brachten sie mit eiligen Schritten nicht etwa in diejenige Kirche, die der Verstorbene vor dem Tod bestimmt hatte, sondern in die nächste beste. Hinterher kamen vier oder sechs Geistliche mit wenigen Kerzen, manchmal mit gar keiner, und legten den Leichnam mit Hilfe der erwähnten Pestknechte, ohne sich mit einer langen und feierlichen Zeremonie aufzuhalten, möglichst schnell in irgendein leeres Grab … Für die grosse Menge der Leichen, die täglich und fast stündlich bei jeder Kirche zusammengetragen wurden, reichte der geweihte Boden nicht aus … Deshalb hob man auf den Kirchhöfen, als alles belegt war, ganz grosse Gruben aus und warf die hinzukommenden Leichen zu Hunderten hinein.»

In den Pestberichten fällt auf, wie die damalige Gesellschaft schockartig destabilisiert wurde. Familiäre Verbindungen und Freundschaften zerbrachen, Berufspflichten wurden vernachlässigt, vielfach sogar panisch hingeworfen, besonders schlimm von Priestern, Notaren und Ärzten – die zwar auch nicht viel helfen konnten, da man die Ursache der Epidemie nicht kannte. Man bereicherte sich an herrenlos gewordenem Gut, Priester verschacherten Sterbesakramente (Letzte Ölung) gegen Abgaben für die Kirche: All dies zeigt die trostlose Situation Mitte des 15. Jahrhunderts. Ein Ausdruck dieser Krise sind die vielen Totentänze mit immer wiederkehrendem Grundmotiv: Der Tod holt alle, den Höchsten wie den Niedrigsten, den Armen wie den Reichen, den Greis wie das Kind. «Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben», beginnt eine Antifon des Mittelalters.

Die Vorbereitung auf den Tod hatte damals Theologen, aber auch einfache Leute gleichermassen beschäftigt. Der Tod war in den Seuchen allgegenwärtig. Im 16. und 17. Jahrhundert kehrten die Pestepidemien zurück. Man begegnete ihnen nun aber etwas anders als früher, nämlich mit Fürbitten zu Jesus, Maria und den Heiligen, vor allem den Pestheiligen Rochus und Sebastian, mit Prozessionen und Bittwallfahrten; man gelobte gute Werke, stiftete Kapellen, errichtete Pestsäulen oder Pestkreuze, wenn die Seuche vorbeiginge. Man gründete Rochus-Bruderschaften, welche die Vorsorge und Pflege in Pestzeiten übernehmen würden. Man gelobte, Passionsspiele aufzuführen, wenn die Pest das Dorf nicht mehr treffe. Theaterspiele über das Sterben wurden aufgeführt, etwa «Die Kunst, wohl zu sterben». Die Angst vor dem Tod äusserte sich etwas anders als zuvor. Der Grundgedanke aber, dass Seuchen eine Strafe Gottes seien, war auch im Barockzeitalter in Predigten immer wieder zu vernehmen. Erst das 19. Jahrhundert brachte die medizinische Aufklärung, und 1894 entdeckte der Schweizer Arzt Alexandre Yersin den Pestbazillus in Hongkong.

 

 

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