Bleiben oder gehen. Gesperrte Strasse. Foto: Keystone/Karl Mathis

Die Schrecken des Winters

Die Literatur erinnert an Grenzerfahrungen. Teil 2 der «pfarrblatt»-Winterserie.

Die Literatur erzählt von den strengen Wintern in den Alpentälern, von todbringenden Lawinen und auch davon, was Kindern damals zugemutet wurde.

von Beatrice Eichmann-Leutenegger

Das Wetter an diesem Dezembertag versprach mild zu werden. So schickte die Mutter ihren Sohn Konrad zusammen mit der kleinen Schwester Sanna über den Berg ins Dorf der Grossmutter, um ihr die Weihnachtsgeschenke zu bringen. Diese gab den Kindern vor der Rückkehr ein Fläschchen mit einem starken Kaffeeaufguss mit, gedacht für die Mutter. Er wärme derart, «dass es den Körper auch in den kältesten Wintertagen nicht frieren kann».

Der Kaffee erwies sich als Lebensretter, denn auf dem Rückweg wurden die Kinder von einem dichten Schneefall überrascht, sodass sie den Heimweg nicht mehr fanden, erbärmlich froren und schliesslich in einer Höhle die Nacht verbrachten. «Ja, Konrad», sagte Sanna zu jedem beruhigenden Satz ihres Bruders, der in seiner Not zum Fläschchen im Rucksack griff. Jeder Schluck daraus wärmte und belebte die Kinder.


Am nächsten Morgen, es war der 25. Dezember, versuchten sie, den Weg zu ihrem Dorf zu finden. Aber da waren bereits Suchtruppen ausgeschickt worden. Die gemeinsame Rettungsaktion zweier Dörfer beendete endlich auch ihren zähen Zwist, und so feierte man das weihnächtliche Hochamt im Zeichen der Versöhnung.

Die Geschichte mit dem Titel «Bergkristall» lässt sich bei Adalbert Stifter (1805–1868) nachlesen, der sich von einer Begebenheit im Salzkammergut anregen liess. Sie erschien 1853 in der Erzählsammlung «Bunte Steine» und beeindruckt noch immer durch ihre realistische Schilderung einer Winterszenerie voller Schrecken, voll des bedrohlichen Zaubers.

Nur wenige Jahre später waren wiederum zwei Kinder unterwegs, diesmal von Sils nach Silvaplana. Lisabetta verdiente nach dem frühen Tod ihres Mannes den Lebensunterhalt als Bäckerin; das Backwerk trug sie danach zum Dorfbackofen. An einem Wintertag ging ihr das Petroleum aus. Da sie ohne Licht nicht arbeiten konnte, schickte sie ihre beiden Kinder Maria und Gianin am frühen Nachmittag nach Silvaplana, um einen halben Liter Petroleum zu holen.


Bereits fiel der Schnee in dichten Flocken, der beissend kalte Wind fegte über die Ebene. Im Krämerladen schlug Duonna Clelia entsetzt die Hände zusammen. «Bei diesem Wetter kommt ihr beiden von Sils herunter», sagte sie und stellte heisse Schokolade und einen Biscutin auf den Tisch. Gianin vergass für eine Weile die Mühsal und gab sich selig dem Genuss der ungewohnten Leckereien hin. Auf dem Rückweg jedoch weinte er und wollte keinen Schritt mehr machen, denn inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen, der Sturm tobte noch heftiger und der Weg lag tief unter dem Schnee.

«Lass mich schlafen, nur ein Weilchen», jammerte Gianin. Maria aber wusste, dass Schlaf den Erfrierungstod bedeutete. Sie lud den kleinen Bruder auf ihre Schultern, kämpfte sich ausser Atem weiter. «Mehr Schnee, immer mehr, Maria sah nur noch Weiss und wusste nicht mehr, wo sie war, und dann wusste sie nichts mehr.» Doch Rettung naht, Schellengeklingel ertönt. Der Bauer Sar Pol findet die Kinder abseits des Weges vollständig zugeweht. Maria kann noch mit schwacher Stimme auf sein Rufen antworten.

Heute ist es kaum zu glauben, was man damals den Kindern zugemutet hat. In ihrer packenden Familiensaga «Das grüne Seidentuch» (2005 in St. Moritz erschienen) führt Marcella Maier (*1920) die Leserschaft ins Bergell anfangs des 19. Jahrhunderts, später dann ins Oberengadin, lässt sie teilhaben am Schicksal ihrer Vorfahr:innen bis hinein ins 20. Jahrhundert. Ein Reigen erschütternder Geschichten zieht vorüber, sodass das andere Gesicht jener Regionen aufscheint, die heute als prominente Feriendestinationen gelten.


Im schneereichen Winter 1951 bauten die Kinder Schneeburgen und richteten sich mit Butterbrot und Taschenlampe darin ein. In den Bergtälern dagegen drohte jede Nacht Lawinengefahr. An den Schreckenswinter im Val Bedretto erinnert der dort geborene Giovanni Orelli (1928–2016) in seinem ergreifenden Erstling von 1965: «L’ anno della valanga» (deutsch: «Der lange Winter»). Er zeigt unbeschönigt auf, wie die Menschen damals lebten.

Fausto von der Post etwa verlor Frau und Kind in einer Lawinennacht. Kurz nach Mitternacht wollte die junge Mutter die Kleine aus dem Bettchen nehmen, hielt sie schon in den Armen, «da ist plötzlich nichts mehr zu sehen», nur ein heftiger Donner zu hören. Man wird die beiden eng umarmt unter dem Schnee finden. Angesichts der Lawinen standen die Menschen vor der Frage: Bleiben oder gehen? Schicksalsergebenheit oder Selbstbestimmung?

Der Evakuation ins Unterland schlossen sich viele Dorfbewohner:innen mit ihrem Vieh an, das Gemüt voller Wehmut. Stumm sassen sie im Zug. Die Müdigkeit nach diesem langen Winter löschte jedes Wort aus. Orelli aber hat ein Requiem für die Toten seines Bedrettotals geschrieben.

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