«Der Verstand ist bei Erfahrung von Transzendenz sehr wichtig», sagt Charlotte Pauli. Foto: Pia Neuenschwander

Die Sinne als Tor zu Gottes Gegenwart

Die geistliche Begleiterin und Psychiaterin Charlotte Pauli im Gespräch

Wie beeinflusst unser Blick auf die Welt unsere Wahrnehmung? Können wir Gottes Gegenwart wahrnehmen? Eine Kunstinstallation im Dunkeln gab Anstoss für ein Gespräch über solche Fragen mit der geistlichen Begleiterin und Psychiaterin Charlotte Pauli.

Text und Interview von Daniela M. Meier, freie Journalistin

Am Eingang der Ausstellung schlüpfe ich durch die Vorhänge und stehe in völliger Dunkelheit. Als sich meine Augen daran gewöhnt haben, sehe ich über mir einige Lämpchen leuchten wie Sterne am Nachthimmel. «Ah, da ist ja eine filigrane Struktur im Raum», sagt ein Besucher irgendwo neben mir. Ich strenge mich an, auch etwas zu sehen, und nehme ein Schimmern wahr, das im Dunkeln schwebt – mehr nicht.

Mit ihrer Installation in der Kunsthalle Bern, die noch bis zum 7. August zu sehen ist, will uns die Künstlerin Ivana Franke bewusst verunsichern. In ihrer Ausstellung «Twilight. Neither perception nor non-perception» fordert sie dazu auf, unsere Sehgewohnheiten zu hinterfragen: Schliessen wir Sichtweisen auf die Welt aus, weil wir sie nicht gewohnt sind?

Auch die Religion befasst sich mit dem, was nicht alle wahrnehmen und was doch für viele allgegenwärtig ist: das Göttliche. Es gibt verschiedene Wege, die Wahrnehmung für das Göttliche zu öffnen. Das Christentum lädt dafür zur Kontemplation ein, das heisst: sich in die Stille zu begeben und zu schauen, wie Gott wirkt.
 

Schliessen wir Sichtweisen auf die Welt aus, weil wir sie nicht gewohnt sind?


Dass Kontemplation nicht eine rein geistige Angelegenheit zu sein braucht, darauf hat Simon Peng-Keller, Professor für Spiritual Care an der Universität Zürich, in einigen Publikationen hingewiesen. Peng-Keller bezeichnet das sinnliche Wahrnehmen als Tor, das uns in eine Wirklichkeit hineinführt, die uns übersteigt und die das gleiche Geheimnis in sich birgt, das wir selbst in uns tragen.

Auch die geistliche Begleiterin und Theologin Charlotte Pauli aus Bern bindet die leiblichen Sinne in ihren Kontemplationskursen ein. Als Fachärztin FMH in Psychiatrie und Psychotherapie hat sie sich jahrelang mit dem Zusammenspiel von Leib und Seele beschäftigt.  

«pfarrblatt»: Im Halbdunkeln nehme ich die Welt anders wahr als am hellen Tageslicht, weil ich nicht alles sehe. Kann ich meiner sinnlichen Wahrnehmung überhaupt vertrauen?

Charlotte Pauli: Halbdunkel und Helligkeit sind auch eine Frage unserer Wachheit: Wenn ich hellwach und ganz präsent, also nicht abgelenkt, zerstreut oder schläfrig bin, kann ich dem Schauen, dem Horchen, dem Riechen, dem Schmecken und dem Spüren – also den fünf Sinnen – sehr wohl vertrauen. Ich kann jedenfalls dem, was ich mit meinen Sinnen wahrnehme, mehr vertrauen als dem, was ich dann darüber denke oder wie ich es bewerte – oder was ich dabei fühle.

Die Sinneswahrnehmungen sind viel objektiver als dann die Interpretationen – die sind sehr subjektiv. Daher kann ich meiner sinnlichen Wahrnehmung wirklich vertrauen. Sogenannte Sinnestäuschungen kommen bei einer stark veränderten äusseren oder inneren Situation vor; sie sind sehr selten und Ausdruck einer Extrem-Situation – oder auch eines krankhaften Geschehens, also beispielsweise bei Halluzinationen. Aber das ist ja nicht das, was wir normalerweise erleben.

In der Ausstellung von Ivana Franke allerdings ist es nicht halbdunkel, sondern stockdunkel! Und meine Erfahrung in der Ausstellung war, dass ich durch dieses plötzliche Erblinden mit allen meinen Sinnen ganz hellwach war. Ich war ganz im Hier und Jetzt, weil es plötzlich stockdunkel war.

Unsere Gefühle und Gedanken verändern also den Blick auf die Welt und unsere Wahrnehmung ändert sich, je nachdem, ob wir hektisch oder ruhig unterwegs sind. Wie beeinflusst unser Zustand, wie wir die Umwelt wahrnehmen?

Normalerweise gehen wir ja in einem Nebel von Gedanken, Wertungen, Befürchtungen, Erinnerungen, Gefühlen durch unser Leben. Dieser ist mehr oder weniger dicht. Die sogenannte «reine» Wahrnehmung, die nicht mit unserem Denken und Fühlen vermischt ist, ist selten. Das streben wir beispielsweise in der Kontemplation an. Dieses achtsame, wohlwollende, zweckfreie Wahrnehmen ermöglicht uns eine sehr viel tiefere Erfahrung von der Welt und auch von uns selbst.

Ich kann einen Bezug machen zur Installationen von Franke: Durch sie wird die «reine» Wahrnehmung geradezu hergestellt, in dem ich in der Dunkelheit vielleicht diffus aufscheinende Objekte erkenne, die ich zu nichts Bekanntem zuordnen kann. Also für einen Moment ist das Denken – und damit das Einordnen, Werten und Urteilen - ausgeschaltet.

Das Denken hilft in dieser neuen Situation auch nicht weiter. Ich bin auf meine Körperwahrnehmung zurückgeworfen, weil ich mich tastend und spürend durch diese dunklen Räume bewegen muss. Diese Konfrontation mit dem Unbekannten verunsichert, aber macht auch wach und offen.

Gottsuchende berichten von Erlebnissen, die mit dem gesunden Menschenverstand nicht nachvollziehbar sind. Welche Rolle spielt der Verstand bei solchen Erfahrungen?

Der Verstand ist bei Erfahrung von Transzendenz sehr wichtig – also von dem, was mich selber, was uns übersteigt. Bei diesen meist intensiven Erfahrungen tritt das logische Denken und das Beurteilen in den Hintergrund. Dieser Zustand ist in der Regel sehr empfänglich und offen.

Gott lässt sich nicht mit dem Verstand fassen. Aber es ist nach intensiven Transzendenz-Erfahrungen sehr wichtig, diese nachträglich zu verstehen und mit der eigenen Person und dem eigenen Leben zu verbinden. Hier ist das Gespräch mit einer Vertrauensperson wichtig; nur so können solche Erfahrungen auch auf dem persönlichen Weg fruchtbar und hilfreich sein.

Es gibt religiöse Traditionen, die den ganzen Körper einbeziehen. Zum Beispiel werfen sich tibetische Buddhisten auf der Pilgerreise zur Erde nieder. Ein anderes Beispiel ist der Drehtanz der muslimischen Derwische. Können solche Körperbewegungen unsere Sinne für das Göttliche öffnen?

Körperbewegungen wie Sie es erwähnt haben – auch Yoga, Shibashi und viele andere – können die Erfahrung von Transzendenz ermöglichen. Sie helfen, uns mit Leib und Seele auf das Göttliche auszurichten.

Aber auch das Gegenteil macht es möglich: das ganz still Sitzen, wie es in der kontemplativen Meditation geübt wird, wo wir unsere Aufmerksamkeit auf unseren ganzen Körper, auf unseren Atem, auf unser ganzes Dasein richten - wo wir umschalten vom Tun zum Sein. Also, wir können uns für das Göttliche öffnen sowohl in Bewegung wie auch gerade im Gegenteil: körperlich still werden.

Auch in der christlichen Spiritualität gibt es Anleitungen, wie wir über die leiblichen Sinne Gottes Gegenwart erfahren können. Wie beeinflussen beispielsweise Schmecken oder Lauschen der Umwelt unsere geistige Innenschau?

Die Wahrnehmung mit den Sinnen wendet sich immer dem Neuen des Lebens zu. Und sie verbindet uns mit der Schöpfung und ihren Geschöpfen, also auch mit uns selbst. Diese hellwache Präsenz im jeweiligen Augenblick lässt uns vielleicht auch die Kraft dieses Augenblicks spüren. Wenn wir diese Kraft spüren, hat das eine klärende – vielleicht eine reinigende – Wirkung und ermöglicht uns das grosse Ganze wahrzunehmen.

Wobei man sagen muss: In der christlichen Tradition galt die Leiblichkeit und somit auch die sinnliche Wahrnehmung für lange Zeit als etwas, was von Gott wegführt und oft mit Sünde in Verbindung gebracht wurde. Erst im 20. Jahrhundert begann man, die christlich begründete Sinnesfeindlichkeit zu hinterfragen... es ist immer noch ein Thema.

Diese sinnlichen Erfahrungen können die Sichtweise auf die Welt so verändern, dass sie einen sogenannten Sinneswandel bewirken. Haben Sie schon einen solchen Wandel selber erfahren?

Es gab bei mir starke Transzendenz-Erfahrungen im Rahmen von Meditationen, die auf meinem Weg eine grosse Wirkung gezeigt haben und heute noch zeigen. Die sinnliche Wahrnehmung ist aber eine sehr wichtige Dimension in meinem Alltagsleben: nicht nur beim Meditieren, sondern auch bei körperlicher Aktivität oder in der Natur.

Wenn ich mich der Gegenwart achtsam und mit möglichst offenen Sinnen zuwende - trotz allem Dunkel und Zerstörerischen in unserer Welt - kann eine Resonanz entstehen. Ich erlebe eine Resonanz für das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Oder anders gesagt: Ich kann darin die Spuren der Liebe Gottes entdecken.
 

Charlotte Paulis Weg zur christlichen Kontemplation

Seit ihrer Kindheit war Charlotte Pauli eine spirituell Suchende und fand zunächst zur Meditation des Zen-Buddhismus und der Advaita-Vedanta, wo sie intensive Erfahrungen machte. Obwohl sie in diesen östlichen Religionstraditionen praktizierte, wurden für sie ihre christlichen Wurzeln immer deutlicher spürbar.  So wandte sie sich der christlichen Kontemplation und den ignatianischen Exerzitien zu.

In ihrer langjährigen Tätigkeit als Fachärztin für Psychiatrie (u. a. mit Krebspatient:innen) realisierte sie , dass für sie der spirituelle Ansatz in der Psychotherapie immer wichtiger wurde. Darauf absolvierte sie das Studium «Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess» und konnte auch ihre eigenen Erfahrungen integrieren. Diese Ausbildung schaffte die Grundlage für eine berufliche Neuorientierung.

Seither begleitet sie Suchende in spirituellen Fragen und leitet Kontemplations- und Exerzitien-Kurse. Die christliche Kontemplation hat vieles gemeinsam mit der Praxis in den östlichen Religionen, wie z. B. Übungen zur Achtsamkeit. In ihren Kursen bezieht Frau Pauli die Sinne und den Körper stark mit ein, insbesondere die Wahrnehmung seiner selbst und die Sinneswahrnehmung in der Natur.

Sie selbst bezeichnet sich als körperbewussten Menschen und deshalb ist ihr der körperliche und sinnliche Bezug beim Meditieren und auch im Alltag sehr wichtig.

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