Es bröckelt, es stockt, einiges bleibt, vieles muss weg. In der Kirche geht es zu und her, wie auf einer Baustelle, sagt Pater Martin Werlen. Zusammen mit Elisabeth Fink-Schneider ist er im Auftrag des Bistums St.Gallen Anlaufstelle für Menschen, die geistlichen Missbrauch erlebt haben. Aktuell ist die Anlaufstelle noch in der Pilotphase.
Interview: Isabella Awad
Elisabeth Fink-Schneider und Pater Martin, ihr seid beide verbunden mit der Kirche, mit dem Glauben. ‘Missbrauch in der Kirche’, was löst das bei euch aus?
Elisabeth: Es braucht Aufmerksamkeit und Sensibilisierung für das Thema geistlicher Missbrauch in der Kirche und eine systematische Herangehensweise, durch die Strukturen hinterfragt und neue geschaffen werden können, um Missbrauch vorzubeugen. Eine Anlaufstelle zu etablieren ist der erste Schritt. Delikte von geistlichem Missbrauch sind subtil, weil sie keine strafrechtlichen Konsequenzen haben.
P. Martin: Das ist eine Wirklichkeit, die wir ausgeblendet haben und die jetzt immer mehr ins Bewusstsein tritt. Die Kirche war lange die grösste Macht in einem Dorf. Opfer eines Missbrauchs dieser Macht hatten keine Chancen, gehört zu werden. In meiner Tätigkeit als Ansprechperson ging es bis anhin weniger darum, einer Person zu helfen, aus einer Situation rauszukommen, sondern ihre Erfahrungen, ihr Anliegen, dass sich im System etwas ändert, zu hören. Da merke ich auch die Grenzen unserer Möglichkeiten.
Hast du ein Beispiel?
P. Martin: In Ordensgemeinschaften gibt es die Einrichtung der Visitation. Aber die Art und Weise, wie diese offensichtlich in Frauengemeinschaften auch gehandhabt wird, bietet keinen Raum, dass solche Problematiken zur Sprache kommen könnten. Das Gefäss ist da, aber es erfasst nicht, was es erfassen müsste. Ich gebe den Verantwortlichen, die Visitationen machen, diese Beobachtung weiter. Diese Prozesse müssen so gestaltet werden, dass sie auch geistlichen Missbrauch wahrnehmen können. Ich weiss, wie die Visitatoren in unserer Gemeinschaft arbeiten: Sie reden mit jeder einzelnen Person und anschliessend gibt es einen schriftlichen Bericht. Wenn sie etwas wahrnehmen, sprechen sie das konkret an. Ich habe aber erfahren, dass einzelne Visitatoren nur mit der Oberin, dem Oberen sprechen.
Elisabeth: Visitatoren sollten anhand von Kriterien geistlichen Missbrauch thematisieren und Gemeinschaften dafür sensibilisieren. Es gibt eine Reihe von Indizien – die deutsche Bischofskonferenz hat solche veröffentlicht – die auf geistlichen Missbrauch hindeuten können, z.B. wenn Mitgliedern Informationen willkürlich vorenthalten werden und ihre Kommunikation kontrolliert und beschränkt wird.
P. Martin: Wir können das im Bistum einspeisen, aber es muss dann auch etwas passieren.
Was verstehen wir unter ‘geistlicher’ Macht? Was ist spiritueller Missbrauch?
Elisabeth: Eine sehr eingängige Definition gibt Klaus Mertes: «Eine geistliche Person verwechselt die Stimme Gottes mit der eigenen» oder Doris Reisinger: Sie betont den Missbrauch der geistlichen Selbstbestimmtheit. Geistliche Inhalte und religiöse Praktiken werden missbraucht, um Menschen zu manipulieren und einzuschüchtern.
P. Martin: Es bedeutet, meine geistliche Macht für meine eigenen Interessen einzusetzen und nicht für das Wohl einer anderen Person oder das Wohl einer Gemeinschaft.
Wie grenzt man ab zu anderen Formen von Missbrauch?
P. Martin: Viele sind sich nicht bewusst, dass jeder sexuelle Übergriff ein Machtmissbrauch ist. Wenn die Macht mit religiösen Motiven und Inhalten ausgeschmückt ist, ist das grösser als jede andere Macht. Wenn ich meinen Willen, als den von Gott ausgebe, ist das geistlicher Missbrauch.
Wie sieht eure Arbeit konkret aus? Welche Erfahrungen habt ihr gemacht?
Elisabeth: Betroffene und Beobachter dürfen sich an uns wenden. Wir hören zu und schauen mit der Person mögliche Wege an. Anonymisiert geben wir die ‘Fälle’ ins Bistum weiter. Den konkreten ‘Verfahrensweg’ gilt es erst zu entwickeln und das liegt beim Bistum.
P. Martin: Ich hatte bis jetzt E-Mail-Kontakte und zwei Treffen. Ich biete jeweils ein Treffen an.
Wie reagieren Menschen darauf, dass ihr auch ‘Kirchenpersonal’ seid?
Elisabeth: Es kann vielleicht ein Hindernis sein, das wird sich erst zeigen. Wir sind nicht im Bistum beheimatet, man kann mit uns in Kontakt treten, ohne dass das Bistum etwas davon erfährt.
P. Martin: Menschen haben eher Vertrauen, mit jemandem zu reden, der oder die das System kennt. Gerade im Kontext Kloster ist es von Vorteil. Zwei Gespräche haben mir die Augen geöffnet für Situationen, denen ich mir nicht bewusst war.
Welches sind die Folgen von geistlichem Missbrauch?
Elisabeth: Das betrifft den Menschen ganzheitlich und wirkt sich auf das psychosoziale Verhalten aus – schlussendlich auf das ganze Leben.
P. Martin: Diese Verletzungen sind ganz persönliche Verletzungen. Es ist keine Schubladisierung möglich. Nicht zu vergleichen mit einem Beinbruch. Psychische Verletzungen heilen schwieriger.
Was ist ein schwerwiegender Fall?
P. Martin: Wenn jemand in einer Gemeinschaft lebt und spürt, ich kann nicht mehr atmen. Das ist schwerwiegend. Dann muss man handeln. Jemanden sofort rausnehmen und einen anderen Platz finden. Ich würde aber nie in einer solchen Situation eine Entscheidung treffen.
Wie ist die Zusammenarbeit mit dem Fachgremium sexueller Missbrauch?
P. Martin: Im Gespräch mit dem Fachgremium für sexuelle Übergriffe sind wir uns einig, dass wir nicht als Konkurrenz wahrgenommen werden dürfen. Jemand der sich meldet darf nicht einfach weiterverwiesen werden.
Elisabeth: Wir machen transparent, wie der Weg weitergeht. Gute Fallführung und ein professionelles Setting sind für uns selbstverständlich. Die Menschen wissen nun, dass es dieses Angebot gibt. Manche wollen nur ihre Erlebnisse deponieren und keine weiteren Schritte unternehmen. Ich bin dankbar für jedes Gespräch. Das öffnet uns immer wieder die Augen. Ich möchte nicht nur betroffen sein, sondern auch einen konstruktiven Beitrag an Veränderung, Verbesserung leisten. Das ist eine Chance.
Ist das System Kirche krank?
P. Martin: Jedes System ist in sich etwas Geschlossenes. Tendenz in diesem System ist, nach aussen so zu tun, als ob alles in Ordnung ist. Man hütet sich, mit jemandem darüber zu reden. Manchmal dauert das so lang, bis alles zerbricht. Dass das Bistum St. Gallen eine solche Stelle schafft, zeigt, dass es sich dieser Themen bewusst ist und sie zur Sprache kommen sollen. Das Ziel ist keine Verurteilung, sondern eine Verbesserung des Systems zum Wohle aller.
Elisabeth: Wichtig ist, dass wir alle Punkte, die uns auffallen in den einzelnen Gesprächen, an die zuständigen Stellen zurückspiegeln und Vorschläge machen, wo und wie Systeme und Strukturen verändert werden sollten. Meine Erwartung ist, dass das Bistum dann aktiv wird.
Arbeitet ihr auch präventiv?
P. Martin: Präventiv ist für mich schon das Signal: Wir wissen, überall wo Macht ist, kann Macht missbraucht werden, wir wissen, dass es in religiösen Bereichen genauso ist, wie in anderen Bereichen. Wir möchten das thematisieren und Personen zur Verfügung stellen, die für das ansprechbar sind. Das Thema gehört überall besprochen, wo Menschen damit zu tun haben – bereits in der Ausbildung.
Hat die Macht der Kirche aus eurer Sicht bereits nachgelassen?
Elisabeth: Ja, das zeigt sich nicht zuletzt an den vielen Kirchenaustritten.
P. Martin: In der Kirche gibt es Systeme, die schon sehr synodal unterwegs sind und solche, die immer noch sehr geschlossen sind. Die Vielfalt ist enorm. Doris Reisinger war in einem geschlossenen System und brachte Dinge ans Licht, bei denen wir sagen: Das darf doch nicht wahr sein! Das löste aus, dass wir über geistlichen Missbrauch reden und ihn ernst nehmen. Und uns geht es ähnlich: Manchmal ist man betriebsblind.
In Bezug auf die Resultate der Pilotstudie – was ist nun für die Betroffenen das Wichtigste?
Elisabeth: Gehör finden, ernst genommen werden – auch in der Kirche und dass es weitergeht und etwas passiert.
P. Martin: Der grösste Schritt ist zuzugeben: Ja, wir haben ein Problem – wir wollen das anpacken. Dass die Personen nicht mehr isoliert sind und sich selbst die Schuld geben. Der 12. September 2023 offenbarte einen Rückblick. Es hat Betroffene teilweise ermutigt, sich zu melden. Das ist positiv. Das Thema betrifft die gesamte Kirche und ist präsent auf allen Ebenen. Wir sind jetzt alle gefordert.
Die Problematik des geistlichen Missbrauchs wirft auch ein Licht auf die Erziehung. Viele, die das erlebt haben, treten aus der Kirche aus, sobald sie können und haben für den Rest des Lebens genug. Wenn eine religiöse Erziehung gelingt, freut sich der Mensch auf mehr, macht sich auf die Suche. Der heilige Benedikt sagt so schön: Wer im Glauben voranschreitet, dem weitet sich das Herz. Und wenn es eng wird, stimmt etwas nicht. Jetzt wäre Gelegenheit, die religiöse Erziehung anzuschauen und etwas zu verändern.
Glaubt ihr, dass die Kirche es ernst meint und das Vertrauen der Gläubigen und das der Gesellschaft zurückgewinnt?
Elisabeth: Ich hoffe auf den heiligen Geist und darauf, dass er Systeme zusammenbrechen lässt, die krank machen. Eine vom Geist erfüllte Kirche wird immer Bestand haben, wir dürfen uns überraschen lassen, wie sie künftig aussehen wird.
P. Martin: Es gibt immer noch Menschen, die nicht realisieren, inwiefern wir gefordert sind. Wir müssen dranbleiben. Jetzt müssen Menschen Verantwortung übernehmen, die nichts mit den Missbräuchen zu tun haben. Jetzt zeigt sich, ob wir den Jesusworten glauben: «Die Wahrheit wird euch frei machen» und «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben».
Wenn ihr von heute auf morgen in der Kirche etwas verändern könntet… was wäre das?
P. Martin: Ich würde das Bild der Kirche verändern. Ein beliebtes Lied in Festgottesdiensten ist ‘Ein Haus voll Glorie schauet weit über alle Land’, aus ew’gem Stein erbauet… ‘ Dieses Bild der Kirche ist fürchterlich und war nie berechtigt. Dieses Bild ist auch für die Art und Weise, wie man mit Missbrauch umgeht, mitverantwortlich. Mein Bild der Kirche ist die Baustelle. Das beschreibe ich im Buch «Baustellen der Hoffnung».
Die Bistumsleitung beauftragte in einer Pilotphase (2023/2024) Elisabeth Fink-Schneider, Dornbirn (A) und Pater Martin Werlen OSB, Propstei St.Gerold (A), Fälle von Missbrauch geistlicher Macht, bzw. geistlicher Abhängigkeit im Bistum St.Gallen entgegenzunehmen und zu bearbeiten. Die Ansprechpersonen nehmen Verdachtsmomente auf und klären mit der meldenden Person das Vorgehen.
Das Fachgremium (FG) ist Anlaufstelle bei Auftreten von sexuellen Übergriffen im kirchlichen Umfeld. Die Ansprechpersonen stehen im Rahmen des Schutzkonzepts Betroffenen von sexuellem Missbrauch oder grenzverletzendem Verhalten zur Verfügung und klären mit den Beteiligten das Vorgehen.