In kürzester Zeit ist ein einzigartiges Œuvre entstanden. Foto: Martin de Arriba, unsplash.com

«Dies ist mein ganzes Leben!»

Zum hundertsten Todestag von Charlotte Salomon

Das Werk der jüdischen Künstlerin Charlotte Salomon (1917–1943) ist in Ausstellungen, Filmen und Büchern vorgestellt worden. Welche Geschichte steckt dahinter?

von Beatrice Eichmann-Leutenegger

An der Côte d’Azur im Städtchen Villefranche malt eine junge Frau ihre Bilder. Hoch konzentriert arbeitet sie in ihrem Zimmer des kleinen Hotels «La Belle Aurore». Das Meer glitzert, die Sonne strahlt über der Bucht – eine Postkartenidylle aus einem der Künstlerdörfer in Südfrankreich. Doch der Schein trügt. Denn die jüdische Malerin Charlotte Salomon fürchtet den privaten wie den politischen Wahnsinn.

Doch der Schein trügt.

Sie malt zwischen 1940 und 1942 wie im Fieber. In kürzester Zeit vollendet sie eine monumentale Autobiografie in Bildern, Texten und Musik. Nach dem Krieg entdecken die Eltern ein einzigartiges Œuvre. Sein Titel «Leben? Oder Theater?» weist auf ein Werk, das sich nicht einordnen lässt, weil es sich in Zwischenräumen bewegt und Impulse verschiedenster Kunstgattungen aufgenommen hat. Es besteht aus 1325 Gouachen mit Dialog- und Erzähltexten sowie Musikanweisungen.

Die Lebensgeschichte, die an Comics erinnert, verfährt nach der Art filmischer Sequenzen und zeichnet ganze Bewegungsabläufe nach. Sie organisiert virtuos Massenszenen, vermittelt aber auch Begebenheiten von zarter Intimität. Hunderte von Szenen führen durch die Autobiografie, über zwanzig Darsteller:innen treten auf, deren leicht veränderte Namen auf reale Vorbilder weisen.

Sie malt zwischen 1940 und 1942 wie im Fieber. In kürzester Zeit vollendet sie eine monumentale Autobiografie in Bildern, Texten und Musik.

Wie hat dieses Riesenwerk vor dem Zugriff der Gestapo gerettet werden können? Charlotte Salomon traf ahnungsvoll Vorkehrungen. Mit den Worten «Heben Sie das gut auf. ‹C’est toute ma vie›, dies ist mein ganzes Leben!» übergab sie 1943 mehrere Pakete mit Blättern ihrem französischen Arzt Dr. Moridis in Villefranche zur Aufbewahrung.

1943 heiratete Charlotte Salomon den österreichischen Juden Alexander Nagler. Es war eine Verbindung, die Aussenstehenden unpassend erschien, aber ihren Zusammenhalt in der gemeinsamen Not fand. Im September desselben Jahres, als die Razzien in Nizzas Hinterland einsetzten, wurde das Paar verhaftet (vermutlich auf Grund einer Denunziation) und nach Auschwitz deportiert.

Heben Sie das gut auf. ‹C’est toute ma vie›, dies ist mein ganzes Leben!»

Charlotte Salomon, sechsundzwanzigjährig, war schwanger und wurde bei der Selektion sofort in die Gaskammer geschickt. Als Todestag gilt der 10. Oktober 1943. Ihr Ehemann starb im Januar 1944 an den Folgen der Haft. Nach dem Krieg fuhren Charlotte Salomons Eltern nach Südfrankreich. Man überreichte ihnen das Werk «Leben? Oder Theater?», und sie brachten das künstlerische Vermächtnis nach Amsterdam.

1959 übergaben sie es dem Stedelijk Museum. Dort wurde das Werk 1961 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. 1971 schenkten die Eltern das Lebenswerk ihrer Tochter dem Jüdischen Historischen Museum in Amsterdam. Der Vater war nämlich mit seiner zweiten Frau nach Holland geflüchtet, dort allerdings nach dem deutschen Einmarsch im Mai 1940 verhaftet worden. Dem Paar gelang jedoch mit Hilfe der holländischen Untergrundbewegung die Flucht.

Der Akt des Schenkens war Zeichen ihrer Dankbarkeit. Charlotte Salomon, am 16. April 1917 als Tochter des Arztes Albert Salomon und der Franziska Salomon geb. Grunwald in Berlin geboren, war eigenwillig, scheu und schweigsam, gezeichnet vom frühen Tod der Mutter, die angeblich an einer Grippe gestorben war. In Wirklichkeit hatte es sich um einen Selbsttötung gehandelt, die an die traurige Reihe von Suiziden in ihrer Familie anknüpfte.

Der Vater verheiratete sich 1930 wieder mit der bekannten Sängerin Paula Lindberg. Ihr Korrepetitor, Alfred Wolfsohn, erkannte Charlottes zeichnerische Begabung und sagte ihr, dass man sich der Kunst bedingungslos hingeben müsse. Sie merkte sich diesen Satz in letzter Konsequenz. 1936 begann Charlotte Salomon das Studium der Gebrauchsgrafik an der Berliner Kunsthochschule. Als ihr der «Sandkuhl-Preis» wegen ihrer jüdischen Herkunft verweigert wurde, brach sie den Lehrgang 1938 ab.

Flucht in den Wahnsinn oder schöpferisches Widerstehen. Sie entschied sich für die Kunst.

Der Vater wurde im gleichen Jahr im KZ Sachsenhausen interniert. Die Tochter täuschte im Januar 1939 einen Wochenendbesuch bei den Grosseltern mütterlicherseits vor, die bereits im südfranzösischen Villefranche weilten. Im März 1940 nahm sich die Grossmutter das Leben. Charlotte Salomon erfuhr erst jetzt durch den Grossvater die wahren Todesumstände ihrer eigenen Mutter.

Im besetzten Frankreich verschärfte sich die Lage auch im Süden, der «zone libre», denn ab 1942 begannen die Deportationszüge zu rollen. Zwei Möglichkeiten blieben Charlotte Salomon, die «allein mit ihren Erlebnissen und dem Pinsel» dastand: Flucht in den Wahnsinn oder schöpferisches Widerstehen. Sie entschied sich für die Kunst.
 

«Charlotte Salomon: Leben? Oder Theater?». Herausgegeben von Edward van Voolen. Prestel Verlag. München 2004 (mit vielen Abbildungen)

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