Die ukrainische Musikerin Tamara Lukasheva hilft seit Kriegsbeginn wo und wie sie kann, unter anderem mit Solidaritätskonzerten. Foto: Gerhard Richter

«Diese Verbundenheit gibt viel Kraft»

Wie eine ukrainische Musikerin in täglicher Angst um ihre Familie lebt

Tamara Lukasheva und Marina Sobyanina, zwei international bekannte Musikerinnen, haben sich an der Hochschule der Künste in Bern kennengelernt. Damals hatten sie ein gemeinsames Musikprojekt. Dass Tamara aus der Ukraine und Marina aus Russland kommt, spielte keine Rolle – bis vor kurzem. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ist das Leben der beiden aus den Fugen geraten. Tamara Lukasheva, 1988 in Odessa geboren, lebt in Köln. Sie erzählt.

Aufgezeichnet von Sophie Schudel

Wenn ich am Morgen aufwache, schaue ich als Erstes auf mein Handy, ob meine Familie etwas geschrieben hat. Meine Schwester schreibt: «Es gab einen Angriff, aber bei uns ist alles in Ordnung, es war etwas weiter weg.» Sie und meine Eltern leben in Odessa. Der Krieg kommt näher, das ist die Angst der letzten Wochen, es werden Angriffe im Süden und Osten erwartet. Und seit den Bildern, aus Butscha, wissen wir auch, mit wem wir es zu tun haben. Die russische Armee begeht jedes Verbrechen, das man sich vorstellen kann. Meine Familie kann nicht nach Deutschland kommen, mein Papa ist noch nicht so alt, und Mama wird Papa nie verlassen, die bleiben zusammen. Auch meine Schwester wird ihren Mann nicht verlassen.

Mein Alltag hat sich komplett verändert, mein normales Leben ist vorbei. Ich habe viel Kontakt zu meinen ukrainischen Freund:innen und zu den Menschen in der Ukraine. Ich versuche dort zu helfen, wo ich genau weiss, dass es benötigt wird. Vor einigen Tagen haben wir es zum Beispiel geschafft, Insulin und Glucose-Sensoren nach Odessa zu verschicken. Oder ich helfe Geflüchteten, sich hier in Deutschland zurecht zu finden.

Zum Glück kann ich mit dem, was ich tue, etwas bewirken. Ich habe mittlerweile 15 Benefizkonzerte gespielt und es werden weitere folgen. Es konnte viel Geld gesammelt werden. Für mich erhalten Kunst und Musik, meine Haupttätigkeit, gerade eine neue Bedeutung. Ich erfahre die Tiefe, welche die Musik hat. Auch in den Städten der Ukraine, die nicht so stark betroffen oder zerstört sind, wird Musik gespielt. Musik kann die Seele heben und von Herz zu Herz sprechen.

Ich rede auch an meinen Konzerten. Ich informiere mein Publikum. Ich erzähle teilweise grausame Dinge, aber ich rede auch von der ukrainischen Kultur, von ukrainischen Künstler:innen, über Liedtexte. Die wichtigste Verbindung entsteht aber durch die Musik. Man öffnet das Herz, und es kommt einfach raus. Manchmal, nicht oft, wird es mir zu viel, dann muss ich kurz weinen, es ist jetzt wichtig, das zu tun. Und ja, ich passe das Programm an. Es macht keinen Sinn, Dinge komplizierter zu machen, als sie sind. Einfachheit – ich will nicht überfordern. Alles, was mit dem musikalischen Ego zu tun hat, ist absolut unnötig. Ich mache etwas, weil es zu einem Zustand passt, oder weil es etwas Wichtiges vermittelt. Vielleicht mache ich jetzt meine schönsten Konzerte. Vielleicht, ich weiss es nicht. Diese Verbundenheit, die ich auf einmal mit anderen Ukrainer:innen fühle, zu sehen und zu erleben, wie die Ukrainer kämpfen und sich im Ausland zusammen schliessen und versuchen, etwas zu tun – alle sind schon längst über die eigenen Grenzen gegangen – gibt viel Kraft.

Ich will mit allen möglichen Mitteln meine Eltern retten. Wenn es auch nur ein kleiner Tropfen ist, was ich mit meinen Konzerten tue, wenn ich etwas sage, wenn ich berühre, wenn ich Gedanken anrege, dann kann ich vielleicht ein kleines Stück weit auch meine Familie retten, dann kann ich ein kleines Stück weit etwas Gutes tun. Metaphorisch ist es für mich auch ein Kampf zwischen der Menschlichkeit, dem Guten, und dem absolut Bösen in einem Menschen. Und das absolut Böse darf nicht gewinnen.

Ich denke, dass letzlich alle etwas für Demokratie und Freiheit opfern müssen: Die Ukrainer opfern ihr Leben, die Europäer:innen werden wohl ein Stück Wohlstand opfern müssen. Meine grösste Angst ist, dass auf einmal der Ukraine die Schuld gegeben wird, dass es allen schlechter geht. Wir müssen aber vielleicht bestimmte Dinge opfern, um unsere Werte zu schützen, um die Situation zu nutzen, um völlig neue Wege zu gehen. Auch klimamässig wäre das eigentlich viel sinnvoller. Dass man spart und auf erneuerbare Energien umstellt. Wir sind in einer Zeit des Umdenkens, in einer Zeitenwende.
 

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