Diplomat, Dichter und religiöser Philosoph

UNO-Botschafter Dag Hammarskjölds spirituelles Tagebuch

Vor genau 60 Jahren machte UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjölds Tod Schlagzeilen. Sein posthum entdecktes spirituelles Tagebuch irritierte die Intellektuellen. Heute gerät er mehr und mehr in Vergessenheit. Peter Zimmerling, Professor der Praktischen Theologie an der Universität Leipzig, hat sich intensiv mit Dag Hammarskjölds Spiritualität befasst und erklärt, wer dieser Mann war.

Von Daniela M. Meier, freie Journalistin

Am 18. September 1961 war UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld unterwegs zu Friedensverhandlungen. Über einer umkämpften Provinz in Kongo stürzte sein Flugzeug ab. Bald verbreiteten sich Gerüchte, dass der Generalsekretär einer Sabotage zum Opfer gefallen sei. Denn der gebürtige Schwede und die von ihm initiierten UNO-Blauhelme waren ins Kreuzfeuer der westlichen Mächte und der Sowjetunion geraten, weil sie in Afrika die Unabhängigkeitsbewegungen stützten.

Dag Hammarskjöld hinterliess ein Manuskript mit persönlichen Aufzeichnungen, das er «als eine Art Weissbuch meiner Verhandlungen mit mir selbst – und mit Gott» umschrieb. Diese Notizen mit Naturimpressionen, Gedichten und Gebeten wurden als «Zeichen am Weg» veröffentlicht, so wie er sie in einem Eintrag genannt hatte: «Sie waren Wegzeichen, aufgerichtet, als du an einen Punkt kamst, wo du sie brauchtest, einen festen Punkt, der nicht verloren gehen durfte. Und das sind sie geblieben.»

Gegen die Veröffentlichung stemmten sich die führenden Intellektuellen Schwedens, weil für sie diese christlich-mystische Seite Hammarskjölds völlig neu war und sie sehr irritierte. Seine katholischen Freunde aber sorgten dafür, dass sein spirituelles Tagebuch der Öffentlichkeit zugänglich wurde.

«pfarrblatt»: Von Dag Hammarskjöld hörte ich erstmals vor einer Yoga-Meditation. Ist sein spirituelles Tagebuch in Kirchenkreisen in Vergessenheit geraten?

Peter Zimmerling (links, Foto: Uni Leipzig): Im evangelischen Andachtsbuch «Die Losungen» stehen Texte von ihm ... aber ja: sonst ist er in den letzten Jahren mehr und mehr in Vergessenheit geraten. Gerade bei der jüngeren Generation muss man erklären, wer er war.

Seine spirituelle Seite war vor seinem Tod praktisch unbekannt. Hammarskjöld schrieb seine ersten Einträge 1925, mit 20 Jahren. Was hat ihn als junger Mann dazu inspiriert?

Dag Hammarskjöld gehörte zu einer der staatstragenden Familien Schwedens. Sein Vater war im Ersten Weltkrieg sogar Premierminister und weil er die Lebensmittel rationieren liess, war er im Land richtig verhasst. Es ging soweit, dass Dag als Schüler von seinen Klassenkameraden dafür verprügelt wurde! Und die Mutter stammte aus einer Familie von Theologen und war eine fromme Frau. Als die Familie später in Uppsala lebte, hatte sie Kontakt zu Nathan Söderblom, dem Primas der schwedisch-lutherischen Kirche. Der Palast des Erzbischofs lag sozusagen neben dem Wasa-Schloss, in dem die Hammarskjölds lebten. Söderblom befasste sich mit östlicher und christlicher Mystik und war sehr offen gegenüber den anderen christlichen Konfessionen; er gilt als einer der Väter der Ökumene im letzten Jahrhundert. Von ihm erhielt Dag den Hinweis Mystiker zu lesen. Dag war als Schüler sicher einsam. Als Hochbegabter war er wohl auch anspruchsvoll. Er scheint von früh auf einen Hang zum Alleinsein gehabt zu haben.

In seinem Tagebuch thematisiert Hammarskjöld mehrfach seine Einsamkeit. Scheinbar fand er Halt in mittelalterlicher Mystik. Wie konnten ihm so alte Texte eine Stütze sein?

Er vertiefte sich in drei mittelalterliche Mystiker: Meister Eckhart, Thomas von Kempen und Johannes vom Kreuz, ein Schüler von Theresa von Avila – der grössten christlichen Mystikerin. Er hat in diesen Texten offensichtlich sein Lebens- und Glaubensideal gefunden: Aus dem inneren Schweigen heraus verantwortlich für andere Menschen zu handeln. Und viel später – er war fast 50 Jahre alt – machte er selber eine mystische Erfahrung. Das war sozusagen eine Verlebendigung dessen, was er bisher aus der Literatur erfahren hatte.

Trotz seines beruflichen Erfolgs zweifelte er am Sinn des Lebens. Erst 1953, als er ganz unerwartet zum UNO-Generalsekretär gewählt wurde, fand er seine wahre Berufung. Ist dies als Wegmarke im Tagebuch sichtbar?

Die mystische Wende kam Monate vorher, unabhängig von der Ernennung an der UNO in New York. Er dokumentierte sie am 1. Januar 1953. Bis zu diesem Eintrag zieht sich eine Art depressive Stimmung durch sein Tagebuch, aber hier kommt es zu einem Umschwung: «Dem Vergangenen: Dank, / dem Kommenden: Ja!». Es kommt ein ganz anderer Ton in die Einträge. An Pfingsten 1961 kommt es zu einer Art Rückblick auf diese mystische Erfahrung: «Ich weiss nicht, wer – oder was – die Frage stellte. (...) Aber einmal antwortete ich JA zu jemandem – oder zu etwas. / Von dieser Stunde her rührt die Gewissheit, dass das Dasein sinnvoll ist und dass darum mein Leben, in Unterwerfung, ein Ziel hat.» Also kann man seine Erfahrung nicht auf seine Beförderung reduzieren, im Gegenteil: das Amt bei der UNO war eher ein Schleudersitz als ein Karrieresprung. Seine Berufung erwächst aus seiner mystischen Grunderfahrung vorher.

Wie floss diese mystische Erfahrung in seine Arbeit bei der UNO ein?

Er las die UNO-Charta ganz neu als Menschheitsethik und füllte das Amt des Generalsekretärs entsprechend aus: Er verhielt sich viel unabhängiger als sein Vorgänger und machte sich beide Machtblöcke im Wechsel zu Feinden. Er hat das durchgehalten, weil er diese Verankerung in Gott hatte. Er nannte es «in Unterwerfung», aber das heisst etwas anderes als was man landläufig darunter versteht. Wir verstehen das ja heute als Fremdbestimmtheit. Für Hammarskjöld und die Mystiker bedeutet das vielmehr, mit sich identisch sein und bei Gott Heimat finden. Das heisst: Bei sich selbst einkehren können und ein Ja zu dem eigenen Menschsein mit seinen Begrenzungen finden.

Unterwerfung bedeutet, eine Heimat bei Gott finden?

Unterwerfung im Sinne von Hingabe aus Liebe, und die wird ausgelöst durch die Hingabe Gottes an den Menschen aus Liebe. In dem Sinne, dass Gott nicht ohne den Menschen sein will oder sein kann. Das ist tatsächlich ungewöhnlich für heutige Frömmigkeit im Westen: Hammarskjöld hält nichts zurück vor Gott – jedenfalls bemüht er sich darum – bis hin zum Einsatz seines Lebens. Das ist wohl der Grund, warum er trotz der Warnungen in den Kongo flog, wo er dann ums Leben kam.

Im damals aufgeheizten politischen Umfeld orientierte er sich an der Ethik, die er bei den Mystikern gelesen hatte?

Die mittelalterlichen Mystiker haben ihm sozusagen vorverdaut die Ethik der Bergpredigt nahe gebracht. Wenn man die Evangelien genauer darauf hin durchforstet, fällt einem auf, dass sich Jesus ganz häufig in die Stille zurückzieht. Für Hammarskjöld war der Rückzug in die Stille sehr wichtig. Mein Lieblingszitat von ihm ist: «Mitten im Gelärm das innere Schweigen bewahren.» Im UNO-Hauptgebäude hat er einen Raum der Stille geschaffen. Es ist meines Wissens der erste Raum der Stille, der keine direkt religiösen Symbole hat.

Hammarskjöld bezog sich in seinen Texten auch auf asiatische und islamische Quellen. Wie stand er zu ihnen?

Natürlich war er von Nathan Söderblom geprägt. Dann war er sehr verbunden mit Martin Buber, der viele Bücher über jüdische Mystik veröffentlicht hat, und Hammarskjöld hat sein Buch «Ich und Du» auf Schwedisch übersetzt. Mit dem Sufismus hat er sich weniger beschäftigt, aber sicher mit der buddhistischen und hinduistischen Mystik.

Kann sein Tagebuch auch heute Wegweiser sein?

Auf jeden Fall! In einer schwierigen Zeit, als ich Universitätsprediger hier in Leipzig war, wurden Hammarskjölds Worte «Mitten im Gelärm das innere Schweigen bewahren» zu meinem Motto.


Buchtipps

Dag Hammarskjöld: Zeichen am Weg, Das spirituelle Tagebuch des UN-Generalsekretärs. Überarbeitete Neuausgabe mit einem Vorwort von Dr. Manuel Fröhlich. Deutsch von Anton Graf Knyphausen. München (Knaur Verlag) 2005.

Peter Zimmerling: «Mitten im Gelärm das innere Schweigen bewahren», Aspekte mystischer Spiritualität im Protestantismus. Herrenalber Forum, Band 79, Karlsruhe 2019, 2. erweiterte Auflage.
 

Ausschnitte aus Dag Hammarskjölds spirituellem Tagebuch «Zeichen am Weg»

Immerfort
Auge in Auge
mit dieser Liebe
die alles sieht
dochübersieht
in Geduld
was rechtens ist
doch nicht urteilt
wenn unser Blick
spiegelt den ihren
in Demut.

(Hammarskjöld, 1.-7.11.1956, S. 144)

So ging ich im Traum mit Gott durch die Wesenstiefe:
Wände wichen zurück, geöffnete Tore, Saal nach Saal voll
Schweigen und Dunkel und Kühle – von der Seelen
Vertrautheit und Licht und Wärme –, bis um mich
Grenzenlosigkeit war, worin wir alle zusammenfluteten und
weiterlebten wie Ringe nach fallenden Tropfen auf weite,
ruhige, dunkle Wasser.

(Hammarskjöld, 1955, S. 127)

Eine Landschaft kann von Gott singen, ein Leib vom Geist.

(Hammarskjöld, 1953, S. 108)

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