Hunderttausende Menschen gehen derzeit in Deutschland auf die Strasse. Sie protestierten gegen Rechtsextremismus und die AfD. Die Wende 1989 in der DDR hat die Autorin dieses Textes geprägt. Die Bilder gleichen sich, und doch ist vieles ganz anders.
Kolumne von Vera Rüttimann
In diesen Tagen geschieht in Deutschland Wundersames. Über 100.000 Menschen in München, auch der Platz vor dem Berliner Reichstag, schwarz vor Menschen. Zehntausende in anderen deutschen Städten wie Hamburg oder Stralsund. Es ist die Mitte der Gesellschaft, die sich gegen die AfD erhebt. Deutschland erlebt die grössten Demos seit Jahrzehnten. Und sie gehen weiter. Was passiert da gerade?
Empfindlicher Nerv
Das investigative Recherchenetzwerk «Correctiv» deckte ein geheimes Treffen von AfD-Politikern, Neonazis und privaten Unterstützern auf. Als publik wurde, dass dabei über Vertreibungsfantasien von Millionen Menschen diskutiert wurde, von «Rückführungsfantasien» für Millionen von Zugewanderten, ist etwas in der deutschen Gesellschaft aufgebrochen. Das trifft einen empfindlichen Nerv bei den Deutschen. Das «Nie-Wieder» nach den Gräueln des Nationalsozialismus. Die lange schweigende Mitte zeigt ihr Gesicht.
Erinnerung an 1989
Die friedliche Revolution 1989 hat mich bis in meine DNA geprägt. Die Menschenmassen auf den Strassen mit ihren selbstgebastelten Plakaten und Transparenten erinnern mich an die Demos in Leipzig und Dresden im Wendeherbst. An diese selige Trunkenheit, als kein Schuss fiel. Und das SED-Regime erodierte.
Was in diesen Tagen auf deutschen Strassen und Plätzen passiert, ist natürlich mit der friedlichen Revolution in der DDR nicht vergleichen. Während es damals um die Beseitigung einer Diktatur und um das Erringen von Freiheit oder einen dritten Weg ging, geht es den Demonstrierenden heute um den Schutz bereits errungener demokratischer Rechte.
Heute marschieren im bürgerlichen Bündnis unter anderem Parteien wie die Grünen, die CDU, die SPD und die FDP mit – frei gewählte Parteien, die es in der DDR noch nicht gab.
Selbstermächtigung
Und doch berichten mir ostdeutsche Freunde von einigen Parallelen zu damals: Vom Gefühl der Selbstermächtigung, gegen Ungerechtigkeiten aufzustehen; vom Mut, das Heft selber in die Hand zu nehmen; vom Willen, gemeinsam die Angst zu überwinden; von der Überraschung darüber, wie die Zahl der Demonstranten ungeahnte Ausmasse annehmen konnte; sie berichten mir von einer Stimmung, als sei Druck aus einem Kessel entwichen. Und dann sind da auch die Kirchen. Auch diesmal marschieren Vertreter:innen der evangelischen und katholischen Kirche mit. Zwar nicht derart federführend wie 1989, aber immerhin.
«Wir sind das Volk!» hiess es 1989. Doch wer ist das Volk heute? Es ist sehr bunt, sehr plural. Und dennoch eint es das Nein zur Politik der AfD.
Wie umgehen mit dieser Partei? Diese Frage wird zum Prüfstein. Die Verweigerung des Dialogs mit ihr, das erkennen die Besonnen, ist jedenfalls nicht der richtige Weg.
«Eine weltoffene, bunte und freie Welt»
Ein Schlenker in die Welt des Fussballs: Während Leute gegen das menschenverachtende Gedankengut der AfD auf die Strassen gingen, fand unlängst in der Allianz Arena in München die Gedenkfeier für Fussball-Legende Franz Beckenbauer statt. Uli Hoeneß, eine andere Bayern-Grande, erinnerte an die WM 2006, die als «Sommermärchen» in die Geschichte einging. Diese Wochen hätten gezeigt, wie «offen und freundlich unser Land» sein könne.
Auch ich erinnere mich an vier friedliche Wochen in Schwarz-rot-gold, an ein Fest unter Freunden. «Diese Stimmung wünsche ich mir heute wieder zurück», sagte Uli Hoeneß angesichts der nahenden Europameisterschaft im Juni in Deutschland. Es geht ihm um eine weltoffene, bunte und freie Welt. So wie 1989 den DDR-Bürgern in Berlin, Leipzig und Dresden - und heute den Tausenden in ganz Deutschland.