Plinio Martini (1923–1979) wäre am 4. August 100 Jahre alt geworden. / Foto: zVg/tipress/tio

Ein Jeremias aus dem Val Bavona

Zum 100. Geburtstag von Plinio Martini

Eine Welt von gestern: In Plinio Martinis Werken lebt das Tessin von anno dazumal auf. Eine Laudatio zu seinem 100. Geburtstag am 4. August.

von Beatrice Eichmann-Leutenegger

Auf in die Sonnenstube, zu den Grotto-Seligkeiten! Die Vorstellung einer unbeschwerten italienischen Schweiz lockt Touristenscharen in den Süden. Noch vor hundert Jahren boten die Tessiner Täler ein ganz anderes Bild, das uns aus dem Werk des Autors Plinio Martini eindrücklich entgegentritt. Sein schmales Œuvre umfasst drei Gedichtbände, drei Romane und kürzere Prosatexte. Aber es ist wegen seiner kraftvollen Sprache bedeutsam, die in ihrer Wucht und Zartheit an den Schwyzer Dichter Meinrad Inglin erinnert. Zudem zeichnen sich Martinis Bücher durch ihren dokumentarischen Wert aus, lassen sie doch eine Welt von gestern aufleben.

Plinio Martini wurde 1923 als Sohn des Dorfbäckers in Cavergno (Val Bavona) geboren, wuchs mit sieben Brüdern in einfachsten Verhältnissen auf und arbeitete als Lehrer in Cavergno und Cevio (Valle Maggia). Der literarische Durchbruch gelang ihm spät. 1970 erschien der Roman «Il fondo del sacco»; 1976 folgte der Roman «Requiem per zia Domenica» nach. Da litt er bereits an einem Hirntumor, der nach langem Leiden 1979 zum Tod führte. Heute gilt sein Werk als Klassiker der Tessiner Literatur.

Zur Emigration gezwungen

Die beiden zu Lebzeiten publizierten Romane sind von Trude Fein vorzüglich ins Deutsche übersetzt worden, wobei der Titel des einen, «Il fondo del sacco», nun «Nicht Anfang und nicht Ende» lautet. Sowohl die deutsche wie die italienische Überschrift lassen sich plausibel aus dem Romangeschehen herleiten. «Wir waren eine Insel ausserhalb der Zeit, die letzte Hand voll Mehl auf dem Grunde des Sackes», sagt Gori, der Protagonist. Er kehrt nach zwei Jahrzehnten harten Lebens in Kalifornien, wohin er als Zwanzigjähriger ausgewandert ist, in sein Dorf zurück und trifft auf völlig veränderte Verhältnisse: der Vater gebrechlich, die Mutter behindert, die Braut Maddalena früh verstorben, das Tal von neuen Verkehrsverbindungen und dem Bau der Maggia-Kraftwerke geprägt. Soll er bleiben oder ins ungeliebte Amerika zurückkehren? Seine Unschlüssigkeit – Gori gehört weder hierhin noch dorthin – drückt sich anschaulich im deutschen Titel «Nicht Anfang und nicht Ende» aus.

Seit Jahrzehnten waren die jungen Männer des Valle Maggia und seiner Seitentäler zur Emigration gezwungen. Die Weiler und Dörfer entleerten sich, ganze Familien starben aus. Kinderreichtum, knappes Weideland, Armut, Hunger, Mangel an Verdienstmöglichkeiten trieben die Bewohner weg. Zurück blieben die Alten, die Väter und Mütter sowie die ledigen jungen Frauen, die vergeblich auf die Rückkehr warteten. Halt fanden die einen im christlichen Glauben, dessen Hüter, der Ortspfarrer Don Giuseppe, mit eiserner Hand über die Moral wachte, als ob der Dekalog nur aus dem sechsten Gebot bestünde.

Das Evangelium geriet unter seinem Diktat nicht zur Frohbotschaft, sondern zur Drohbotschaft. In beiden Romanen ballt sich das Unglück derart zusammen, dass der Atem während des Lesens stockt: tödliche Unfälle, Mütter und Kinder, die verhungern, unmenschlich schwere und miserabel bezahlte Arbeit, Verzweiflung und Hader mit dem Schicksal.

So ist der Autor Plinio Martini zu einem Jeremias geworden, der klagt und anklagt, seinen Zorn über soziale Ungerechtigkeit äussert und dem Richter Venanzio als kritischer Stimme jene Worte in den Mund legt, die endlich ungeschminkt an die Öffentlichkeit drängen sollen. Der Freigeist Venanzio korrigiert das gängige Geschichtsbild, denn bestimmend wirken nicht «die glänzenden Siege unserer Herren» in den Schulbüchern, sondern Armut, Einsamkeit, Heimweh. Seine Geschichten bezieht er aus einer Sammlung von Fotos, Briefen sowie amtlichen Papieren, und er zitiert sie in Wutreden «wie die Klagelieder des Jeremias».

Leitmotiv Heimweh

Wollte man sich auf ein Leitmotiv Martinis konzentrieren, so wäre es der «morbus helveticus», das Heimweh, welches Söldner und Auswanderer plagte. Johanna Spyri hat dieses Weh, das Heidi in Frankfurt nicht schlafen liess, Generationen von Kindern nahegebracht. Es ist ein Schmerz, der heute bei Weltenbummler:innen einem komfortablen Gegensatz, dem Fernweh, gewichen ist. Flüchtlinge dagegen empfinden das Heimweh nach wie vor als urtümliche Macht. Der Krieg hat ukrainische Familien auseinandergerissen – die Väter dort, Mütter und Kinder hier. Sollten diese zurückkehren, fragt man sich bang, ob sie noch dazugehören werden wie einst.

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