Die Sterbeforscherin Monika Renz (61) hat eine «Krankenbibel» veröffentlicht. Es ist eine Bibel in Kurzform: auf das Wesentliche konzentriert – und stringenter erzählt als die gewöhnliche Bibel. Während einer schweren Krankheit träumte Monika Renz vom Reich Gottes: «Es war das Schönste und Tiefste, was ich jemals empfunden habe.»
von Raphael Rauch
«kath.ch»: Warum haben Sie eine Krankenbibel herausgegeben?
Monika Renz: Die Bibel schreibt über Suchende und für Suchende: Kranke, Verletzte, aber auch jüngere Menschen, die sich nach Gottverbundenheit, Frieden und Ganzsein sehnen. Diese Krankenbibel ist eine Bibel in Kurzform. Sie konzentriert sich auf Hoffnungsgeschichten, die einen Reifungsprozess sichtbar machen oder für unsere Gottesbilder wichtig sind. Die Krankenbibel ist einfacher zu lesen als die normale Bibel.
Warum spenden biblische Geschichten kranken Menschen Kraft?
Weil sie Hoffnung machen. Die Geschichten handeln von Menschen, die von Gott geführt sind. Menschen, die durch Schwere und Ausweglosigkeit hindurchgehen und eine Lösung finden.
Mit Krankheiten will ich mich am liebsten nicht auseinandersetzen. Was habe ich von Ihrer Krankenbibel, wenn ich mich gesund fühle?
Biblische Texte können uns helfen, zu einem volleren, erfüllteren Leben zu finden. Sie erzählen von Menschen, die auf langen Wegen Gott finden.
Sie arbeiten im Kantonsspital St. Gallen mit Krebskranken. Belügt uns Gott, wenn er uns ein Leben in Fülle verspricht – und Menschen trotzdem den Kampf gegen den Krebs verlieren?
Jein. Papst Franziskus schickt uns an die Ränder menschlichen Daseins, weil man genau dort das Reich Gottes erfährt. Menschen etwa, die eine Nahtoderfahrung gemacht haben und entstellt daliegen, berichten: «Ich habe ein anderes Dasein gespürt – Licht.» Ähnliches durchleben Sterbende: Vorerst werden sie dem Leben entrissen. Wenn sie dann loslassen können, kommt ihnen eine andere Dimension entgegen: ein innerer Reichtum, ein Leben in Fülle, ein Licht. Kranke Menschen haben nicht die Wahl, gesund zu werden. Aber sie können ihr Schicksal mit ganzer Kraft annehmen – und dabei Freiheit empfinden. Ein Patient beschrieb einmal: «Was ich jetzt fühle, ist nicht Galgenhumor, sondern Galgenfreiheit. Ich darf einfach mich sein.»
Das klingt paradox. Warum soll ich mich sterbenskrank frei fühlen?
Für Menschen, die noch nie in so einer Situation waren, ist das kaum nachvollziehbar. Aber mit dem nahenden Tod verändert sich alles: Einfache Sinneseindrücke werden intensiv, Liebe scheint förmlich greifbar zu sein, Gott ist nahe. Ich selbst erlebte einmal inmitten von Krankheit den Baum vor dem Fenster als meinen Baum, als Leben schlechthin. Und ich hatte Träume, die mich das Reich Gottes spüren liessen. Es war das Schönste und Tiefste, was ich jemals empfunden habe.
Laufen Sie nicht Gefahr, schwere Krankheiten zu romantisieren? Oder ihnen einen Sinn zu geben?
Romantisieren wäre gefährlich. Ich verharmlose das Sterben nicht. Es bedeutet auch Leiden. Da sind Schmerz und Wut: «Warum gerade ich? Warum hilft mir Gott nicht?» Doch immer wieder erleben Patientinnen und Patienten genau inmitten des Schweren Gnade und inneren Reichtum. Ohne solche wiederkehrenden Erfahrungen wäre ich längst aus meinem Berufsalltag weggerannt.
Was wirkt schmerzlindernd – ausser Medikamente?
Das Einwilligen, das Atmen. Wichtig sind auch schöne Erfahrungen beim Sterben: ein ergreifendes, stilles Beisammensein mit den Nächsten, eine Segensspendung und Visionen. Sterbende sagen etwa: «Oh, so schön – grün», «Licht – ein Sternennetz», «ein Engel mit Hirtenstab ruft». Die Bilder sind vielfältig.
Was sagen Sie einem kleinen Kind, das fragt: «Warum hat meine Mama Krebs?»
Das ist eine Erwachsenen-Frage. Kinder fragen eher: «Was können wir tun?» Ich habe kürzlich mit einem Kind eine Übung gemacht, um ihm die Chemotherapie zu erklären. Das Kind musste mich auf einem Stuhl auf Rollen mit Widerstand aus dem Zimmer hinausschieben. Ich sagte dem Kind: «Genau das passiert mit deiner Mama. Wir schieben den Krebs weg.» Nächste Woche kam das Kind erneut und fragte: «Können wir wieder den Krebs wegschieben?»
Und was sagen Sie einem Kind, dessen Mutter den Kampf gegen den Krebs verloren hat?
Ein solches Kind muss an einen Himmel glauben dürfen. An einen Himmel für alle – auch für Tiere. Ein Junge, dessen Mama gestorben war, spürte ein Loch in der Brust. Später sagte er: «Die Himmelsmami tröstet mein Loch.»
Manche stören sich über diese Gewissheit: Wir wissen letztlich nicht, wo die verstorbene Mutter ist.
Mein Satz vom Himmel ist ein Glaubensbekenntnis. Wenn ich sage «Ich glaube …», ist das ein Eingeständnis, dass ich etwas nicht weiss. Doch in so einer Situation muss ein Kind meine Glaubensgewissheit hören: «Ich glaube, dass deine Mama dir vom Himmel aus nahe sein kann – auf ganz andere Weise.»
Was war in der Kinderbibel Ihre Lieblingsgeschichte?
Josef in Ägypten. Es ist eine traurige Geschichte, denn Josef wurde von seinen Brüdern verkauft. Doch als Kind habe ich intuitiv verstanden, dass Josef von einer besonderen Nähe zu Gott getragen war. Damit konnte er zunächst nicht umgehen. Er hatte seinen Brüdern seine Träume erzählt und nicht gemerkt, dass es Dinge gibt, die man anderen nicht erzählen sollte. Doch immer wieder, selbst im Gefängnis, kommt der Satz: Der Herr war mit Josef und so glückte ihm alles. Gottnähe!
Wo wird diese «Gottnähe», von der Sie sprechen, in Ihrer Krankenbibel besonders sichtbar?
Zum Beispiel bei Elija.In der Bibel wird die Elija-Geschichte an verschiedenen Stellen erzählt. In der Krankenbibel ist sie an einem Stück nachzulesen. Elija ist ein Mann Gottes, der vielleicht über das Ziel hinausschoss und nachher weite innere Wege ging. In der Wüste wollte er sterben. Da kam ein Engel und sprach zu ihm: «Steh auf und iss!» Der Engel hatte Brot und Wasser dabei. Nach der Engelerfahrung und der langen Wüstenwanderung kam die Gotteserfahrung – und diese korrigierte Elijas Bild von Gott.
Gott ist nicht so, dass man für ihn Krieg führt und ihm Schlachtopfer darbringt. Sondern Gott ist einer, der im Säuseln da ist. So hörte ein Patient im Traum eine erhabene Stimme sagen: «Ich habe Brote für dich gebacken.»
Haben Sie für Ihren weiteren Weg eine Vision?
Meine Liebe zur Bibel ist auch eine Vision: In Kursen oder in Kerngruppen von Pfarreien würde ich gern mit Hilfe der Krankenbibel und vertiefenden Klangreisen die heiligen Schriften neu entdecken. Die Bibel als Tor für eigene Erfahrungen mit Gott und für Liturgie! (kath.ch)
Monika Renz (61) ist promovierte Theologin und Psychologin sowie Musik- und Psychotherapeutin. Sie arbeitet seit 1998 in der Psychoonkologie am Kantonsspital St. Gallen und zählt zu den Pionier:innen der Spiritual-Care-Bewegung. Sie ist Autorin des Bestsellers «Hinübergehen: Was beim Sterben geschieht». Zuletzt erschien von ihr die «Krankenbibel: Sich selbst und Gott finden».