Gemäss dem Historiker Joachim Eibach hat das Familienmodell nicht ausgedient. Foto: Pia Neuenschwander

«Eine Familie ist heute eine Option, keine Norm»

Der Historiker Joachim Eibach über nachhaltige Beziehungen

Der Historiker Joachim Eibach hat die vielfältige, offene, dynamische und krisenanfällige häusliche Lebenswelt zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert kulturhistorisch unter die Lupe genommen. Ein Gespräch über die Bedeutung, den Wert und den «Kitt» verbindlicher sozialer Bindungen – damals und heute.

Interview: Anouk Hiedl

«pfarrblatt»: Nachhaltigkeit wird heute meist mit klimabewusstem Handeln verbunden. Inwiefern sind auch soziale Bindungen nachhaltig?

Joachim Eibach: Insbesondere Familienbeziehungen sind in dem Sinne nachhaltig, als dass sie auf einer Basis von Gemeinsamkeit und Vertrauen auf Dauer ausgelegt sind. Ob das funktioniert, ist eine andere Frage. Nachhaltig sind auch die Erziehung und Sozialisation von Kindern. Es gehört zur elterlichen Strategie, die Tradition der eigenen Familie fortzuführen – über den Moment hinaus. Im 19. Jahrhundert erfolgte dies zum Beispiel, indem man die Kinder standesgemäss verheiratete. Heute zeigt sich eine auf Dauer angelegte Beziehung eher daran, dass man sich gemeinsam eine Waschmaschine kauft.

In Ihrem Buch «Fragile Familien» zeigen Sie, wie vielfältig Familienformen bereits ab dem 18. Jahrhundert sind. Nebst Verwandten lebten auch Bedienstete, Mitwohnende und weitere Personen im gemeinsamen Haushalt. Lässt sich das mit heutigen Patchworkfamilien oder WGs vergleichen?

Im 19. Jahrhundert, dem goldenen Zeitalter der Familie, kultivierte die bürgerliche Gesellschaft das Ideal einer Familie, die in ihrer privaten, geschützten Sphäre unter sich lebt. Dazu gehörte auch eine offene Häuslichkeit mit einem stetigen Kommen und Gehen und wochen- bis monatelangen Besuchen von Hausfreunden.

Dienstmädchen gehörten ebenso zum Haus wie die berühmte unverheiratete Tante, die unter dem Dach lebte. Mit der Industrialisierung kamen mobile Arbeiter auf, die sich keinen eigenen Haushalt leisten konnten und als Schlafgänger regelmässig gegen Bezahlung bei ebenfalls armen Familien übernachteten. Mit dem bürgerlichen romantischen Familienideal hatte das nichts zu tun. Beides sind ganz andere Wohnverhältnisse, als wir sie heute gewohnt sind.

Sie zeigen anhand verschiedener Milieus, wie Familien in der bürgerlichen Moderne mit Spannungen und Krisen umzugehen verstanden.Wie resilient sind Familien heutzutage?

Familien passen sich durchaus auch den heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen an und finden ihren Weg, um etwa Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, die Kinderbetreuung zu organisieren oder mit kulturellen Unterschieden untereinander umzugehen. Zwischen 1800 und 1900 war man aber bei finanziellen, emotionalen und anderen Problemen bereit, persönlich mehr zu investieren, um die Familie am Laufen zu halten und sich wieder gemeinsam an den Tisch zu setzen – viel mehr als heute. Eine Familie zu gründen, ist heutzutage keine Norm mehr, sondern eine Option.

Im 19. Jahrhundert waren häusliche Beziehungen meist um eine Ehe zentriert. In unserer heutigen Gesellschaft ist diese als sozioökonomischer Familienpfeiler weniger wichtig geworden. Was spricht heute noch für die Ehe?

Die Scheidungsrate in der Schweiz ist mit 40 Prozent zwar hoch, doch sie steigt nicht weiter. Und geheiratet wird weiterhin. Dabei lässt sich bei aufwendigen Hochzeitsfeiern oder den Vorstellungen von Familie eine Retraditionalisierung beobachten. Auch Geschiedene heiraten ja oft wieder. Funktioniert es beim ersten Mal nicht, versuchen sie es auch ein zweites oder drittes Mal. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das soziale Verlässlichkeit und eine gewisse Verbindlichkeit braucht. Die Ehe ist im Gegensatz zu ad-hoc-Beziehungen eine auf Dauer angelegte Vertrauensgemeinschaft – sie und das Familienmodell haben deshalb keineswegs ausgedient.

In der Schweiz lebte 2021 über ein Drittel der Bevölkerung allein. Was hat Singlehaushalte salonfähig gemacht?

Lange waren Ehe und Familie ein hochgradig normatives Modell. Wer nicht so lebte, wurde zum Aussenseiter – ein altes «Fräulein», eine alte Jungfer zu sein, war kein Spass, und auch in die Jahre kommende «Junggesellen» wurden belächelt. Das hat sich stark verändert.

Wir haben mittlerweile die Wahl, wie wir unser Leben gestalten wollen. Im weiteren soziokulturellen Kontext gesehen, hängt das auch damit zusammen, wie unsere neoliberale Gesellschaft funktioniert. Sie bringt erfolgreiche Individuen hervor, die sich selbst ständig optimieren müssen, vieles rational abwägen und sich fragen: Was bringt’s mir persönlich? Im Kontrast dazu dachte das 19. Jahrhundert die Gesellschaft von der Familie her.

Was trägt im 21. Jahrhundert zu stabilen, verbindlichen sozialen Bindungen bei?

Individualismus ist in der Postmoderne weiterhin ein starker Trend, der aber nicht unendlich so weitergehen kann. Noch einmal: Der Mensch ist ein soziales Wesen. In unserer krisenanfälligen, fluiden und unberechenbaren Welt könnten verlässliche Beziehungen und Werte wieder an Gewicht gewinnen.

Welchen Einfluss hatten religiöse Werte auf die Geschichte der Familie?

Ein Vorläufer des normativen bürgerlichen Modells von Ehe und Familie war der Pietismus, eine besonders fromme Art des Protestantismus. Dieser strebte einerseits nach Sittlichkeit, emotionalen Beziehungen und innerer Selbstbetrachtung, andererseits nach Disziplin und schulischem Erfolg, und die Kinder wurden entsprechend erzogen. Im Katholizismus ist die Ehe ein Sakrament, sie gilt als lebenslang unauflösbar.

Die Vorstellungen von Partnerschaft haben sich verändert …

Ja. Die Idee der Seelenverwandtschaft eines Paars und einer Heirat aus Liebe stammt aus der Romantik um 1800. Noch heute fusst unsere Vorstellung von Liebe und Partnerschaft auf diesen Ideen. Eine männlich dominierte, hierarchische Ehe will heute niemand mehr. Das war zur Blütezeit des bürgerlichen Familienmodells nach 1945 noch ganz anders.

Wie haben sich die gesellschaftlichen Entwicklungen auf familiäre Beziehungen ausgewirkt?

Sehr vielfältig! Der Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg machte es breiten Schichten möglich, dem bürgerlichen Familienideal zu entsprechen. Das führte in den 1950er und 1960er Jahren zu einer «versteinerten Bürgerlichkeit», deren Werte und Geschlechterverhältnisse konservativer waren als in der Frühzeit der bürgerlichen Familie.

Während man bei Tätigkeiten auf dem Hof, beim Handwerk oder der Heimarbeit als Arbeitspaar gemeinsam agierte, gehen Paare heute oft getrennten Arbeiten ausser Haus nach und verbringen tagsüber wenig Zeit zusammen. Homeoffice hingegen erinnert an die Ärzte, Rechtsanwälte und Pfarrer der bürgerlichen Blütezeit im 19. Jahrhundert; auch sie hatten ihr Arbeitszimmer daheim.

Die sozialen Medien wiederum haben ganz neue Möglichkeiten eröffnet, sich zu informieren oder sich kennenzulernen. Wie diese Kanäle sinnvoll genutzt werden sollen, wird immer wieder diskutiert – auch an unserem Familientisch!

 

Dr. Joachim Eibach (*1960) ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Bern. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem die Geschichte von Haus und Familie, die politische Kulturgeschichte der Sattelzeit (1750 bis 1850), interpersonelle Gewalt und Geschlecht sowie theoretische Aspekte und Perspektiven der Geschichtswissenschaft. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats mehrerer internationaler Forschungsprojekte und Kommissionen des Schweizerischen Nationalfonds.

 

Buchtipp
Joachim Eibach: Fragile Familien. Ehe und häusliche Lebenswelt in der bürgerlichen Moderne, Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2022.

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