Nachdenken über Querdenker: Wenn Religion und Verschwörungstheorien in derselben Ecke verortet werden. Foto: Istock

Eine neue Form von Religion?

Verschwörungstheorien und Religion - dieselbe Ecke?

So absurd sie klingen, so viele Anhänger haben sie: Verschwörungstheorien sind gegenwärtig hoch im Kurs. Der Glaube an sie wird häufig unreflektiert mit Religion gleichgesetzt. Eine Expertin warnt vor der Gefahr solcher Vergleiche.

Andreas Faessler

Chemtrails, Reptiloide, die Erde als Scheibe, eine inszenierte Mondlandung, Bill Gates’ Weltherrschaft, Kinderblut trinkende Elitebünde ... egal, wie absurd und weltfremd das alles anmutet – es sind nur einige von vielen populären Verschwörungstheorien, welche je von einer nicht unerheblichen Anzahl  Menschen geglaubt werden. Seit die ganze Welt gegen die Coronapandemie ankämpft, ist das Phänomen besonders virulent geworden. Die abenteuerlichsten  Spekulationen um diverse konspirative Mächte machen die Runde und finden eine erschreckend grosse Anhängerschaft. Eine repräsentative Studie der Universität Basel hat zu Tage gebracht, dass rund 30 Prozent der Bevölkerung an eine Verschwörungstheorie im Kontext mit der Pandemie glauben – wenigstens teilweise.

Eine komplexe und vielschichtige Beziehung

Wo geglaubt wird, ist der Begriff der Religion nicht weit. Sind Verschwörungstheorien etwa eine neue Form von Religion? Ein Blick auf den öffentlichen Diskurs in sozialen Medien zeigt diesbezüglich ein reichlich undifferenziertes Bild. Da wird mit wenig schmeichelhaften Ausdrücken um sich geschmissen. Zu den Verschwörungstheoretikern, in Bezug auf die Pandemie oft «Covidioten» genannt, werden bald unfreiwillig die gläubigen Menschen, despektierlich als «Religioten» bezeichnet, herangezogen. «Es zeigt auf, wie in unserer Gesellschaft über Religion nachgedacht wird», schreibt Iras Cotis, die interreligiöse  Schweizer Arbeitsgemeinschaft für Dialog und Austausch. Sie hat sich mit dem Thema auseinandergesetzt und kommt zum bedenklichen Schluss, dass  religiöse Menschen sehr häufig in dieselbe Ecke gestellt werden wie Verschwörungstheoretiker und psychisch Kranke.

Viele Menschen seien davon  überzeugt, dass religiöse Weltbilder überholt sind und nur ein rückständiger Geist an etwas glauben könne, das sich der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit  entzieht. «Die Beziehung von Religion und Verschwörungstheorien ist komplex und vielschichtig», wird Religionswissenschafterin Rafaela Estermann,  Redaktionsleiterin religion.ch, von Iras Cotis zitiert. Solche Gleichsetzungen bergen geradezu Gefahr, zumal nicht selten antisemitische Narrative in  Verschwörungstheorien eingewoben seien, so die Wissenschafterin weiter. «Gerade in dschihadistischen Kreisen spielen solche antisemitischen Erzählungen  wie über die ‹Weisen von Zion› eine wichtige  Rolle als Trigger zur Radikalisierung », führt Estermann ein Beispiel an. So gründe deren Kampf gegen den  Westen und Israel unter anderem auf der Annahme einer Verschwörung gegen den Islam. Auch in der Geschichte der christlichen Kirche liessen sich  Beispiele für Verfolgungen finden, die sich durch die Annahme von Verschwörungen legitimieren liessen. Neben dem Antijudaismus zähle beispielsweise die  Hexenverfolgung dazu.

Als Spinner diffamiert

Mit der Coronapandemie hat die Verbreitung von Verschwörungstheorien wieder deutlich Fahrt aufgenommen. Darunter fallen unter anderem die Argumente  und Empfehlungen aus Kreisen der Naturheilpraktik und Esoterik, wo man die Wissenschaft und die Schulmedizin anzweifelt, um sich gegen Massnahmen  zur Bekämpfung der Pandemie zu stellen – oder gar die Existenz des Coronavirus zu bestreiten, schreibt Iras Cotis weiter. Und hier schlägt Rafaela  Estermann wieder den Bogen zum Thema Religion: «Aufgrund des Glaubens an unwissenschaftliche Annahmen werden Verschwörungstheorien allzu oft in einen  Topf mit religiösem Glauben geworfen.»

Ihr Fazit ist ernüchternd: «Als Resultat werden Verschwörungstheoretiker im gleichen Zug wie religiöse  Menschen als Spinner diffamiert.» Auch wenn es für viele naheliegend scheinen mag, Verschwörungstheoretiker und religiöse Menschen auf eine Ebene zu  stellen, so hält dem Susanne Schaaf, Psychologin  und Beraterin bei Infosekta, etwas entgegen, was den kleinen, aber entscheidenden Unterschied macht. Sie  sagt: «Religiöse Menschen wissen, dass sie glauben. Verschwörungsgläubige sind hingegen überzeugt, dass sie wissen.»

 

Dieser Beitrag ist zuerst in der Luzerner Zeitung und ihren Regionalausgaben sowie in «Christ und Welt» erschienen.

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