Auch hier lässt sich Sommer leben: im Garten des Berner Dählhölzli-Restaurants. Foto: Pia Neuenschwander

Eine Welt unter den Kastanienbäumen

Sommerfrische im Gartenrestaurant

Dieses Mal geht Beatrice Eichmann-Leutenegger in den Garten des Dählhölzli-Restaurants in Bern. Ein sommerfrischer Ort par excellence.

von Beatrice Eichmann-Leutenegger / Fotos: Pia Neuenschwander

«Komm in den Schatten der Kastanien», sagt Konrad. «Treffen wir uns im Garten des Dählhölzli-Restaurants», schlägt Maria vor. Das Einverständnis folgt sofort, denn eine Sommerplauderei an diesem Ort verspricht pure Erholung. Hat man schon im Mai die Pracht der weissen und roten Kastanienblüten genossen, so schätzt man an heissen Tagen das grüne Schutzdach über dem Kopf. Und erst im Advent, beginnt man zu schwärmen, wenn zweitausend Lämpchen an den Zweigen stecken und in der Dämmerung zu leuchten beginnen …

Aber jetzt hat uns der Hochsommer eingefangen. Die Menschen haben die hellen bequemen Sachen aus dem Schrank gezogen und sitzen vor ihrem Bier oder einer Limonade, die Kinder schwenken Giesskannen und schütten Wasser in einen lang gezogenen Graben, eine Puppe liegt am Boden, eine Mutter hält ein Schüsselchen und gibt ihrem Kind den Brei, während ringsum geplaudert wird.

Doch halt! Dies ist eine Szene aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort und dennoch der Stimmung im Dählhölzli über die Jahrzehnte hinweg so nah. Max Liebermann hat sie in seinem luftigen Bild «Münchner Biergarten» 1884 meisterlich festgehalten.

Tatsächlich lässt das Gartenrestaurant an der Aare die Gedanken zu den bayerischen Biergärten schweifen, zu den Oasen im Münchner Englischen Garten, zu den Aussenschenken der Klöster Andechs oder Schäftlarn.

Immer ist das Gartenrestaurant an warmen Tagen ein willkommener Ort und verheisst grössere Ungezwungenheit als der Innenraum einer Gaststätte. Oft ist es gestattet, ein mitgebrachtes Picknick zu essen. In einigen Gartenrestaurants spielt sonntags Musik auf, und man mag an Edouard Manets Bild «Musik im Tuileriengarten» von 1862 denken.

Ein Friede liegt über der Szenerie. Die Gespräche fliessen munter dahin. Manchmal sprudeln sie sogar, dann plätschern sie wieder gemächlich weiter, münden vielleicht in ein kurzes gutes Schweigen. Von Gott und der Welt ist die Rede, vom Grossen und Kleinen.


Paul Celan (1920–1970), der Dichter aus Czernowitz, hat zwar die Kastanienwälder seiner Stadt als Grenze wahrgenommen, welche die prickelnde Welt draussen lässt. In seinem frühen, um 1940 entstandenen Gedicht «Drüben» gesteht er schon in der ersten Zeile: «Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.» Dieser Vers voller Sehnsucht folgt noch zweimal, wodurch sich der Abstand zwischen Provinzialität und Welthaltigkeit zu vergrössern scheint.

Im August 1996 erreichte mich eine Postkarte aus dem seit 1991 ukrainischen Czernowitz/Tschernivzi, deren Schreiber festhielt: «Auch diesseits der Kastanien ist eine eindrückliche Welt …» Wer würde heute an dieser Aussage zweifeln, der je einmal die Vielvölkerstadt mit ihren reichen Zeugnissen aus der Habsburgerzeit, aus der Epoche jüdischer Kulturträger wie Rose Ausländer, Selma Meerbaum-Eisinger oder eben Paul Celan besucht hat?

Und wenn ich selbst geglaubt hatte, das Gartenrestaurant an der Aare sei ein in sich geschlossenes Reich, das die grössere Welt nicht hereinlasse, so wurde ich an einem Sonntagnachmittag korrigiert. Ich stand unschlüssig am Eingang, versuchte das Areal zu überblicken, auf dem sich die Gäste drängten, als ob die ganze Stadt Bern hierher geströmt wäre. Kein Stuhl, kein Tisch war frei. Zögernd durchquerte ich den Garten, bis ich etwas im Abseits einen Tisch entdeckte, an dem eine Familie sass. Ein Mann und eine Frau, zwei Töchter, ein Sohn. Und ein freier Stuhl.

Ob ich mich zu ihnen an den Tisch setzen dürfte? Sie nickten freundlich, der Sohn sagte höflich auf Hochdeutsch: «Bitte, setzen Sie sich.» Ich brachte ein Gespräch in Gang, meist antwortete der Sohn für seine Angehörigen. Nach und nach schälte sich eine Geschichte heraus. Die Familie stammte aus Tunesien, der Vater hatte als Reporter und Fotograf gearbeitet, wurde verhaftet und eingekerkert. Die Mutter konnte sich mit den drei Kindern nach Europa retten, wo der Sohn rasch Fortschritte im Erlernen der deutschen Sprache erzielte. Ein Jahr später folgte ihnen der Vater als Bootsflüchtling nach. Über diese Fahrt schwieg er sich jedoch im Dählhölzli-Garten aus.

Ich stellte Fragen (nicht die richtigen, wie ich mir danach vorwarf), sie wiederum erkundigten sich, wo man in Bern Kontakte knüpfen könnte. Und dann fiel eine Frage, die jede Bern-Touristin und jeder Bern-Tourist auch stellen würde, als ob die Welt heil geblieben wäre: Wie lange kann man diesem Fluss entlang spazieren?

Irgendwann verabschiedete ich mich. Sie standen alle auf, verneigten sich und wünschten mir mit gefalteten Händen Gutes – mit einer Noblesse, die mich berührte, sodass ich wie in Trance nach Hause ging. Nie hatte ich die Gnade der Heimkehr stärker empfunden.


Hier gehts zur Serie «Am Fluss, im Wald, am See....»

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