Marianne Spiller, Foto: zVg

«Einen Paradigmenwechsel brauchen wir»

Marianne Spiller, Gründerin des Sozial- und Umweltprojekts ABAI in Brasilien

Vor über 40 Jahren wanderte sie aus in den Süden Brasiliens, um sich gegen die Armut zu engagieren. Heute hilft ihr Sozial- und Umweltprojekt ABAI unzähligen Kindern. Marianne Spiller weilt zurzeit in Bern, wo sie von ihrem Kampf um natürliches Saatgut erzählt.


«pfarrblatt»: Marianne Spiller – wie hat Ihre Arbeit 1972 angefangen?
Marianne Spiller: Seit meiner Kindheit hatte ich den Wunsch, mich in einem Gebiet einzusetzen, wo Menschen unter Armut leiden. Durch die Vermittlung von Abbé Pierre, dem berühmten französischen Priester und Gründer von «Emmaus», fiel die Wahl auf Brasilien, das ich überhaupt nicht kannte. Wir kauften ein Stück Land in der Nähe von Curitiba, der Hauptstadt des Staates Paraná. Hier gab es weder eine Strasse noch eine Wasserfassung oder elektrischen Strom.

Sie haben in Mandirituba in jahrzehntelanger Arbeit das Kinderdorf ABAI aufgebaut. Mit Heimen, Ausbildung, Integrationsarbeit.
Von Anfang an haben mich Freundinnen und Freunde aus der Schweiz unterstützt. Und viele haben mitgearbeitet, es ist ein Gemeinschaftswerk. Ich bin glücklich und dankbar, wie viel wir bewirken konnten. Über ABAI stand ein guter Stern.

Ihre Motivation?
Es ist ein grosses Unrecht, dass so viele Menschen in Armut durchs Leben gehen müssen. Damit dürfen wir uns nie abfinden. Wir müssen die Armut überwinden. Wir stehen dem Unrecht nicht ohnmächtig gegenüber. Wir sind aufgerufen, uns für Gerechtigkeit einzusetzen.

Die Befreiungstheologie hat Sie beeinflusst?
Ich hatte das grosse Glück, wichtigen Persönlichkeiten der Befreiungstheologie zu begegnen. Adolfo Perez Esquivel aus Argentinien wurde 1980 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Von ihm habe ich viel für den gewaltfreien Kampf gegen Unrecht gelernt. Ebenso beeinflusst haben mich indigene Menschen. So konnte ich tiefe Wurzeln schlagen in diesem Kontinent.

So freut es Sie sicherlich, dass Oscar Arnulfo Romero nun selig gesprochen wird?
Sicher. Am30. August feiern wir in Mandirituba ein grosses Saatgut-Fest. Da wird Adolfo Perez Esquivel mit seiner Frau dabei sein. Er war auch mit Romero eng befreundet und stand mit ihm in engem Kontakt, als er ermordet wurde. Wichtig war auch Tomás Balduino, Bischof von Goiás, der sich für die Indios einsetzte. Er gründete die Pastoral da Terra, die sich für die Landrechte der Bevölkerung einsetzt. Solche Menschen inspirieren und geben Sinn fürs Leben.

Auch Indigene haben Ihre Sichtweise verändert?
Bei ihnen stehen die Menschen nicht im Zentrum. Wir sollen nicht über die Natur herrschen und sie zur Ware machen. Der Mensch steht nicht über, sondern zwischen andern Geschöpfen. Die Natur gehört nicht den Menschen, sondern die Menschen gehören zur Natur. Diesen Paradigmenwechsel brauchen wir.

So kämpfen Sie gegen die Privatisierung der Natur?
Dafür gibt’s viele Gründe. ZumBeispiel sind die heute verwendeten Samen das Ergebnis tausendjähriger Verbesserungen und Züchtungen von Bäuerinnen und Bauern. Nur so konnte aus einem Gras ein Getreide mit prallen Körnern entstehen. Dieses Wissen gehört nicht Agrokonzernen.

Das Saatgut ist heiss begehrt?
Agrokonzerne orientieren sich an der indus triellen Landwirtschaft. Sie wollen Erträge steigern, Verträglichkeit von Pestiziden vergrössern und Saatgut extremen Bedingungen wie Dürre oder hohem Salzgehalt in den Böden anpassen. So kontrollieren wenige Konzerne Saatgut von Pflanzen wie Mais, Reis oder Weizen. Sie wollen Geschäfte machen und die Samen mit Hilfe von Gentechnologie, Patentierung und einer Kombination aus Dünger und Pestiziden vermarkten.

Sie unterstützen dagegen die Biodiversität?
Wir organisieren Saatgut-Feste und unterstützen Bauern, ihre traditionellen Samen zu erhalten und zu verwenden. Damit sie souverän bleiben beim Anbau von Nahrungsmitteln und der Ernährung. In unserem pädagogischen Programm fördern wir dieses Bewusstsein und Kinder können Saatgut-Retter werden.

Ursprünglich wollten Sie den Hunger bekämpfen?
Der Hunger konnte in unserer Region etwas zurückgedrängt werden. Doch wenn immer weniger Leute die Kontrolle über Saatgut und Boden besitzen, werden die Armen stärker ausgeschlossen und die Erde ausgelaugt, zerstört und vergiftet. Dazu kommt die Klimaveränderung. So müssen wir heute den Hunger der Zukunft bekämpfen.

Gespräch: Karl Johannes Rechsteiner

Infos: www.abai.ch
Marianne Spiller tritt am 4. Juni in der Paulusgemeine Bern auf, siehe Veranstaltungen

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