Die Schweiz feiert 175 Jahre Bundesverfassung: «Wie viel Religion darf’s denn sein?» fragte das Polit-Forum zu diesem Anlass unlängst im Käfigturm in Bern, zu dem die Evangelische Kirche Schweiz (EKS) und die Römisch-katholische Zentralkonferenz (RKZ) eingeladen hatten. Antwort gaben Vertreter:innen verschiedener Parteien und Religionsgemeinschaften. Sie fordern eine intensivere Kommunikation um das Thema Religion mit dem Bund.
Von Vera Rüttimann
Wie viel Religion darf es denn sein in unserer Bundesverfassung? Für Urs Brosi, Generalsekretär der RKZ, kommt das Thema Religion in der Bundesverfassung nur zurückhaltend vor. In Artikel 72 etwa werde festgehalten, dass die Kantone zuständig seien, das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften zu regeln. Artikel 15 garantiere das Grundrecht der Gewissens- und Glaubensfreiheit.
Der Kirchenrechtler resümiert in seinem Eröffnungsreferat: «In Anbetracht dessen, dass Religionsgemeinschaften wichtige gesellschaftliche Akteure sind, mag es erstaunen, dass die Bundesverfassung nicht ein paar grundsätzliche Aspekte im Verhältnis zwischen Bundessaat und Religionsgemeinschaften enthält.»
Gleiches Recht für alle Religionsgemeinschaften
Ein Resultat der bewegten Geschichte der Kirchen in diesem Land ist eine gewisse Ungleichheit. Urs Brosi: «Die meisten Kantone anerkennen weiterhin nur die zwei grossen christlichen Kirchen in öffentlich-rechtlicher Form.» In neun Kantonen seien zudem christkatholische Kirchen anerkannt und in sechs Kantonen jüdische Gemeinden.
Für den Kirchenrechtler wird die religiöse Vielfalt, die sich durch die Migration ergeben hat, nur in wenigen Kantonen durch eine «kleine Anerkennung» berücksichtigt. In Ländern wie Italien und Deutschland werden, so Urs Brosi, deutlich mehr Religionsgemeinschaften vom Staat anerkannt.
Der Bund, fordert der RKZ-Generalsekretär, soll, ergänzend komplementär zu den Kantonen, eine Form der kleinen Anerkennung von Religionsgemeinschaften etablieren.
Antonius Liedhegener pflichtet ihm bei. Der Professor für Religion und Politik an der Universität Luzern schlägt vor, dass es einen Religionsartikel geben soll, «um eine Art gleiches Recht für alle Religionsgemeinschaften zu schaffen.»
«Religion muss politisch gestaltet werden»
Die EKS hatte sich bereits im Jahr 2000 mit einem Vorschlag zur Schaffung eines Religionsartikels zu Wort gemeldet. Rita Famos, Präsidentin Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz, sagt dazu: «Mit der Lancierung eines Religionsartikels verfolgte die EKS auch ein Anliegen im eignen Interesse: Die Beziehung zum Bund intensiver zu gestalten.» Das vom damaligen Präsident Thomas Wipf lancierte Projekt erhielt jedoch zu wenig Unterstützung. Immerhin wurde 2006 der Schweizerischen Rat der Religion mit Vertretern der grössten Religionsgemeinschaften initiiert.
Auch das Publikum mischt mit seinen Fragen das Podium auf. Eine Person fragt: «Es findet auf dem ganzen Kontinent eine Säkularisierung statt. Wieso brauchen Religionsgemeinschaften noch mehr Rechte?» Für Rita Famos geht es nicht um noch mehr «Pfründe» für die Kirche: «Die Hälfte der Menschen hier gehört einer religiösen Gemeinschaft an. Und das muss politisch gestaltet werden.»
Marianne Binder-Keller fügt in diesem Kontext hinzu: «Der christliche Glaube hat unsere Kultur und Gesellschaft enorm geprägt und bildet eine zentrale Säule für das gesellschaftliche Leben.» Es gebe, beobachtet die Mitte-Politikerin, allerdings auch Religionsgemeinschaften, die gar nicht wollen, vom Staat kontrolliert zu werden: «Kaum hat man gewisse Anbindungen an den Staat, stellt der nämlich auch Bedingungen.»
Ein Ansprechpartner im Bundeshaus
Moderator Raphael von Matt fragt: «Rita Famos, träumen Sie von einem Bundesamt für Religion?» Die ESG-Präsident erwidert: «Ich glaube, es braucht in der Bundesverwaltung eine Stelle, die einen echten ‹Link› zu Religionsgesellschaften haben. Einen festen Ansprechpartner nicht nur für Christen, sondern auch für andere Religionsgemeinschaften wie Muslime, Buddhisten und Juden.» Wenn in der Gesellschaft religiöse Themen wie Kopftuch oder Holocaust-Memorial debattiert würden, gäbe es, so Rita Famos, auf nationaler Ebene dann einen Ansprechpartner.
Marianne Binder-Keller ist hierbei skeptisch: «Ich weiss nicht, ob es etwas bringt, eine Person in der Bundesverwaltung zu installieren, die in Sachen Religion inkompetent ist.» Generell habe sie im Bundeshaus das Gefühl, «dass dieses Thema einfach nicht interessiert.» Sie habe in all den Jahren als Parlamentarierin beobachtet, dass es grosse Hemmungen gegenüber dem Thema Religion gebe. Die Mitte-Politiker schiebt nach: «Wir sind der eigenen Religion sehr kritisch geworden. Wenn es um andere Religionen geht, sind wir unsicher, wie wir uns verhalten sollen.»
Kontinuierlichen Dialog
Alle Podiumsteilnehmer:innen sprechen sich jedoch klar für einen kontinuierlichen Dialog mit dem Bund aus. Für Urs Brosi ist das bereits so: «Er zeigt Gesprächsbereitschaft und empfängt Vertreter:innen von Religionsgemeinschaften. Er führt faktisch also schon Gespräche, ohne in der Bundesverfassung eine Grundlage dafür zu haben.» Und auch in der Praxis sei «Religion» auf Bundesebene sichtbar. Urs Brosi nennt als Beispiel dafür die Armee. Es gebe dort christkatholische Priester, freikirchliche Prediger:innen, Rabiner:innen und Imame als uniformierte Seelsorgende.
Antonius Liedhegener schliesst mit den Worten, mit dem sich auf dem Podium alle anfreunden können: «Mit einem Ansprechpartner im Bundeshaus ist es nicht getan. Es braucht Menschen, die in der Lage sind, wie auf EU-Ebene, einen strukturierten Dialog aufrechtzuerhalten und zu fördern.»