Ehemaliges Flüchtlingszentrum in der Zivilschutzanlage Niederscherli (Symbolbild). Foto: Pia Neuenschwander

Erlebnisse eines afrikanischen Flüchtlings

Wie erlebt ein Mensch das konkrete Asylverfahren in der Schweiz? Wie läuft das genau ab?


Dies ist die Geschichte eines Mannes, der aus seiner Heimat in Westafrika fliehen musste und schliesslich irgendwie in der Schweiz gelandet ist. Jedes Leben ist anders, niemals repräsentativ. Aber diese Geschichte hier steht dennoch exemplarisch für ein Flüchtlingsschicksal, das es millionenfach gibt. Der Autor ist selbst Journalist und hat uns seine Lebensgeschichte in französischer Sprache geschrieben, wir liessen den Text übersetzen. Er gibt einen seltenen Einblick in die Verfahren, in die Hintergründe des Asylwesens und nicht zuletzt in die Gedankenwelt eines direkt Betroffenen. Dank dieses Textes tritt hinter den abstrakten Begriffen eines Flüchtlings oder Asylsuchenden unvermittelt ein konkreter Mensch hervor.

Auf ihn aufmerksam wurden wir durch einen Seelsorger der ökumenischen Seelsorge im Bundesasylzentrum im ehemaligen Zieglerspital in Bern. Wir haben uns alle getroffen und uns unterhalten. Es waren eindringliche Gespräche.

Das Thema Migration ist in den letzten Wochen in den Hintergrund getreten. Es bleibt hochaktuell. Die katastrophalen Zustände auf den griechischen Inseln, in Nordafrika oder an der türkisch-syrischen Grenzen sind nicht behoben.                                                                                          Andreas Krummenacher

 

Aus Westafrika in die Schweiz

Von K.F.*

Ich bin in einem kleinen Dorf im Südwesten meines Landes in Westafrika geboren. Die Literatur und die grossen Schriftsteller lernte ich dank der Bibliothek meines Vaters kennen, einem begeisterten Leser. Ich trat in seine Fussstapfen und interessierte mich bereits in der Grundschule sehr für das Lesen. Mit dem Eintritt ins Collège der Ordensgemeinschaft der Schweizer Marianisten-Brüder in meinem Land wuchs meine Leidenschaft für die Literatur weiter. Sie führte mich zum Journalismus, dem Beruf, den ich in meiner Heimat fast zwanzig Jahre lang ausübte.

1996 unternahm ich als Praktikant meine ersten Schritte in der Welt der Medien und des Journalismus. Nach verschiedenen praktischen Ausbildungen arbeitete ich ab 2003 als professioneller Journalist. In diesem Jahr wandte ich mich der investigativen Berichterstattung zu, nachdem ich an einer Reportage über die Situation der Kinder auf der Welt mitgewirkt hatte. Dieses Projekt prägte mich und ich entschied, durch meine Arbeit einen Beitrag zu leisten, und sei er noch so klein, um die Lebensbedingungen der oftmals marginalisierten Bevölkerungsschicht, deren Rechte mit den Füssen getreten werden, zu verbessern. Durch diese Entscheidung konnte ich die am stärksten benachteiligten sozialen Schichten kennenlernen und schonungslos von ihrem tragischen Alltag berichten. Die Ursachen ihres Elends? Der Dilettantismus der herrschenden Klasse und die Veruntreuung öffentlicher Gelder. Meine Berichterstattung war nicht nach dem Geschmack der Staats- und Regierungschefs, aber sie erlangten die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft und der Geldgeber, die Rechenschaft über die bereitgestellten Mittel forderten. Ich erhielt erste Drohungen gegen meine Person.

2005 war ich beim lokalen Radiosender tätig, als ich von einem internationalen Radio als Korrespondent angefragt wurde. Im gleichen Jahr erhielt ich dank den Reaktionen auf meine Arbeit ein Ausbildungsstipendium für afrikanische Journalisten. Die Ausbildung zum Thema Kinderrechte fand in Sion und Genf in der Schweiz statt, deren Boden ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal betrat. Bis 2010 tätigte ich im Rahmen meiner journalistischen Tätigkeit und der Förderung der Menschenrechte weitere Reisen.

2006 schuf ich eine Zeitung, die sich verschiedenen Fragen zu Entwicklung, Wirtschaft und Förderung der Menschenrechte, die oft von den Machthabern missachtet werden, widmete. Da diese Zeitung frei berichtete und die Missbräuche an der Bevölkerung anprangerte, erhielt ich weitere Drohungen. Diese brachten mich 2019 schliesslich dazu, meine Familie zu verlassen und aus meinem Land zu flüchten. Heute, in meiner neuen Umgebung, lebe ich täglich in einer belastenden und einnehmenden Einsamkeit, weit weg von meinen Lieben, die ich hoffentlich bald wiedersehen werde. Auf meinem Weg musste ich zahlreiche Hindernisse überwinden. Das ist meine Geschichte.

Meine Ankunft, erste Scherereien und Begegnungen

Am 13. September 2019 kam es, zehn Jahre nach meiner letzten Reise, zum Wiedersehen mit der Schweiz. Eingenommen vom Grund dieser neuen Reise, der so ganz anders war als bei meinem ersten Besuch, und mit widersprüchlichen Gefühlen – Angst, Freude und Hoffnung – traf ich am Flughafen Genf-Cointrin und anschliessend am Bahnhof Cornavin ein. Den Kopf voller Gedanken versuchte ich, zum Hotel zu gelangen, das ich vor meiner Abreise gebucht hatte. Zu meinem Unglück musste ich feststellen, dass dieses nicht in der Stadt Genf lag, sondern vielmehr im angrenzenden Annemasse, einem französischen Ort nahe der Schweizer Grenze. Nachdem ich die Situation analysiert hatte, entschied ich, mich im Zentrum von Genf niederzulassen.

Am Bahnhof sprach ich eine junge Frau an, um sie nach einem Hotel zu fragen. Sie half mir. Und sie tat noch viel mehr, als ich erwartet hatte. Sie reservierte für mich ein Zimmer in einem Hotel, das sie zuvor kontaktiert hatte, und begleitete mich zur Bushaltestelle. Sie kaufte mir ein Busticket und leistete mir Gesellschaft, bis der Bus eintraf. Als der Bus losfuhr, trennten sich unsere Wege. Wer war diese Unbekannte, die mir zu Hilfe kam? Eine Gottgesandte? Tief versunken in meinen Gedanken wurde ich plötzlich in die Realität zurückgeholt, als eine Stimme verkündete, dass ich angekommen war. Ich stieg aus und begab mich zum Hotel. Doch leider konnte ich dort nicht übernachten, denn ich hatte keine Euros bei mir, nur Schweizer Franken. Mist. Wieder stand ich am Anfang. Ich begab mich zurück zu meinem Ausgangspunkt, dem Bahnhof Cornavin.

Um einen Platz zum Schlafen zu finden, beschoss ich, die Hotels in der Umgebung abzuklappern. Es war Freitagabend und das Wochenende stand vor der Tür. «Kein Zimmer frei!» lautete die Antwort an der Rezeption meistens. Müde, aber nicht entmutigt, entschied ich, mit meinen beiden Koffern in der Hand mein Glück in einem letzten Hotel zu versuchen. Auch hier erhielt ich dieselbe Antwort. Aber der Rezeptionist, ein junger Mann in den Zwanzigern, nahm den Telefonhörer in die Hand, kontaktierte ein paar Kollegen und fand schliesslich eine Unterkunft für zwei Nächte für mich. Er machte die Reservation und gab mir einen Strassenplan sowie eine Buskarte für Kunden des Hotels, die ich bis Montag benutzen konnte. Ein weiterer Samariter?

Gegen 23.30 Uhr mache ich mich also auf zu meinem neuen Ziel. Einen Teil der Strecke legte ich mit dem Bus und den Rest zu Fuss zurück. Völlig erschöpft und mit einem Bärenhunger kam ich nach mehreren Kilometern Fussmarsch im Hotel an. Ich war so müde, dass ich bis zum Morgen durchschlief und meine Sorgen für den Moment vergass. Ich verbrachte das Wochenende dort und verliess das Hotel am Sonntag, denn meine Reservation konnte nicht verlängert werden.

Am diesem Sonntagnachmittag im September war es sehr warm. Da mir nichts anderes übrig blieb, machte ich mich auf den Weg zu meinem neuen Hotel. Wie bereits am Freitagabend legte ich einen Teil der Strecke mit dem Bus und den Rest zu Fuss zurück, aber dieses Mal war der Fussmarsch noch anstrengender. Ich lief unter der brennenden Sonne, ächzend unter der Last meines Gepäcks, und blieb öfters stehen, um zu verschnaufen. Als ich gerade eine Pause machte, blieb ein Passant stehen und bot mir seine Hilfe an. Er kam aus der Gegend und kannte das Hotel, zu dem ich wollte. Er half mir, mein Gepäck zu tragen, und während wir zusammen liefen, erzählte er mir von seinen Erinnerungen von Afrika, wo er einige Jahre verbracht hatte. Das Laufen und die Sonne hatten uns erschöpft. Und mein neuer Freund, der wie die Menschen, die ich zuvor getroffen hatte, aus dem Nichts aufgetaucht war, bot an, mir einen Drink zu spendieren. Das Angebot überraschte mich, aber ich erinnerte mich an meine bisherigen Begegnungen hier und nahm an. Wenige Augenblicke später kehrte er mit einer schönen japanischen Limousine zurück, mit der wir uns aufmachten, um unseren Durst zu stillen. Er brachte mich später zurück, versprach, sich am nächsten Tag bei mir zu melden, gab mir seine Nummer und ging.

Das waren also meine ersten Tage. Sie weckten in mir Sorgen, Angst und tiefe Zweifel. Aber diese Gefühle wurden durch die wunderbaren Begegnungen überstrahlt. Diese Begegnungen gaben mir neue Hoffnung und Motivation, die ich brauchte, um meinen Asylantrag zu stellen. Ich bin sicher, dass es Gott war, der mir diese Menschen geschickt hat, um mir zu helfen.

Mein Gesuch: von Boudry nach Bern

In der Woche nach meiner Ankunft hatte ich die nötigen Informationen gesammelt und unternahm die ersten Schritte, um in der Schweiz Asyl (Schutz) zu beantragen. Und ich kam ins Zentrum von Boudry im Kanton Neuenburg. Bei meiner Ankunft wurde ich registriert und erhielt ein provisorisches Zimmer mit mehreren Etagenbetten zugewiesen. Auf einem davon lag ein Mann. Ein netter Typ. Aber das sollte ich erst später merken, als ich ihn im Zentrum von Bern wiedersah. Ich verstaute mein Gepäck in einem Schrank und legte mich aufs Bett. Plötzlich fühlte ich mich einsam und sehr traurig. Mit einem Kloss im Hals rief ich meine Frau an. Sie tröstete mich und sagte mir, ich solle beten und stark sein. Am nächsten Morgen bat man mich zum Empfang des Zentrums, wo ich über meine Verlegung nach Bern informiert wurde. Ich erhielt den Plan für meine Strecke sowie ein Zugticket. Nachdem ich mich informiert hatte, folgte ich dem Plan, bis ich im Asylzentrum von Bern im ehemaligen Zieglerspital in Wabern eintraf. Dort blieb ich zwei Monate und ein paar Tage.

Bei meiner Ankunft wurde ich von Sicherheitsbeamten empfangen, die mich durchsuchten. Danach wurde ich für die Aufnahmeformalitäten in ein Wartezimmer gebeten. Ich wurde einer dynamischen und sympathischen jungen Dame zugeteilt, die Deutsch mit mir sprach. Mit ihr kam ich wieder in Kontakt mit dieser Sprache, die ich im Gymnasium gelernt, aber lange nicht benutzt hatte. Nach der Inventur meines Gepäcks führte sie mich zu meinem neuen Zimmer, in dem bereits fünf Personen wohnten, alle mit afrikanischer Nationalität. Bevor ich mich einrichtete, wiederholte die Frau, dass ich meinen Schrank immer zuschliessen solle, denn es gebe unter den Asylbewerbern skrupellose Menschen, die nicht davor zurückschrecken würden, andere zu bestehlen. Das sollte ich einige Tage später auf die harte Tour lernen, als mir jemand aus dem Zimmer mein Telefon stahl, während ich es auflud und mich auf dem Bett ausruhte. Ich war niedergeschmettert, denn damit hatte ich die Möglichkeit verloren, meine Familie zu kontaktieren. Ich war am Boden zerstört. Zwar meldete ich den Vorfall der Zentrumsleitung und den Sicherheitsbeamten, aber mein Telefon blieb für immer verschwunden.

Das Leben im Berner Asylzentrum

Die ersten Nächte waren sehr schwierig, denn ich fand in diesem Zimmer, das ich mit fünf Unbekannten teilte, keinen Schlaf. Die Tage waren nicht besser, aber ich passte mich schliesslich an und schuf mir meine eigene Welt, um mich nicht von dieser neuen Umgebung überwältigen zu lassen. Man musste sich an die Regeln des Zentrums halten, und diese waren nicht immer angenehm. Aber wie die Juristen sagen: «Dura lex sed lex» (ein hartes Gesetz, aber ein Gesetz). Abgesehen von den Regeln war die Stimmung oft gedrückt. Gottseidank gab es eine Internetverbindung, die es ermöglichte, für kurze Zeit aus dem Zentrumsalltag auszubrechen. Aber um in den Genuss dieses vergänglichen Glücks zu kommen, brauchte man ein Smartphone. Die meisten der Asylbewerber hatten eines. Die Plätze mit dem besten Internetempfang waren deshalb immer voller Menschen. Diejenigen, die sich lieber anders beschäftigten, hatten ihre Methoden.

Meine waren die Abschottung, das Lesen und das Schreiben. Ich konnte mir einen Bereich einrichten, wo ich die meiste Zeit mit meinem Computer verbrachte. Während der nächtlichen Kontrollgänge waren die Sicherheitsbeamten oft erstaunt, mich wach und über die Tastatur meines Computers gebeugt anzutreffen. An manchen Tagen, wenn ich einen «Durchhänger» hatte, besuchte ich eine der Assistentinnen des Rechtsdienstes, die mir ein bisschen ihrer Zeit schenkte, um zu reden. Diese Momente des Austauschs gaben mir während meines Aufenthaltes enorm viel. Als ich mich am Tag meiner Abreise von ihr verabschiedete, sagte sie mir wie in einer Prophezeiung: «Du bist wie der Phönix. Nach dem, was du durchgemacht hast, wirst du wiedergeboren werden.»

Donnerstag war immer ein besonderer Tag im Zentrum, denn dann erhielten wir unser Taschengeld. Damit konnten man sich kleine Dinge im Supermarkt leisten, einen Tee oder Kaffee trinken oder Zigaretten kaufen, wenn man rauchte. Neben dem Taschengeld erhielten wir einen Gutschein für ein Gratis-Kaffee im Café Ziegler. Eine weitere Möglichkeit, Stress abzubauen, war die gemeinnützige Arbeit. So konnte man sich beschäftigen und Unterschriften sammeln, um ausserhalb des Zentrums Arbeiten verrichten zu können. Und mit diesen Arbeiten ausserhalb des Zentrums konnte man nicht nur etwas Geld verdienen, sondern auch mal etwas anderes sehen.

Ein weiterer Ort, an dem ich im Zentrum zur Ruhe fand, war die Seelsorge. Schon am ersten Tag meines Aufenthalts ging ich dorthin und traf einen der Seelsorger. Mit ihm führte ich viele Gespräche. Er erzählte ihm von meinem Bedürfnis, Gott in der Messe zu loben, und er wies mich auf eine Kirche unweit des Bahnhofs hin. Dorthin ging ich dann jeden Sonntag für die Messe auf Französisch und manchmal auch unter der Woche zum Beten und Meditieren.

Meine Anhörungen

Eine Woche nach meiner Ankunft fand mein Vorstellungsgespräch statt. Dabei ging es darum, meine Identität und Herkunft im Zusammenhang mit meinem bei meiner Ankunft abgegebenen Identitätsdokument (Reisepass) zu überprüfen. Ausserdem befragte man mich zur Zusammensetzung meiner Familie, ihrer Position zum Zeitpunkt der Anhörung und meiner Reiseroute bis in die Schweiz. Einige Tage später hatte ich einen Termin bei der Rechtsberatung, deren Anwälte Asylbewerbern bei ihren Anhörungen als Rechtsbeistand zur Seite stehen, gemäss dem neuen Schweizer Asylgesetz, das im März 2019 in Kraft trat. Bei diesem Treffen informierte man mich, dass mich ein Anwalt während des Asylverfahrens vertreten wird. Meine Vertreterin war eine junge Anwältin, der ich mit meiner Unterschrift die Vollmacht erteilte. Sie war es, die mir im weiteren Verfahren die Informationen des Staatssekretariats für Migration mitteilte.

Im Oktober fand meine erste Anhörung zu den Gründen für mein Asylgesuch statt. Als das Datum feststand, bereitete ich mich mit meiner Anwältin vor und wartete ungeduldig darauf, dass der Tag eintreffe. Immer wenn ich daran dachte, bekam ich Herzklopfen. Um mich zu beruhigen, betete ich im Stillen oder rezitierte den Rosenkranz. Dann endlich war es soweit. Am Abend vor der Anhörung konnte ich fast nicht schlafen.

Die Befragung fand am Nachmittag statt. Meine Anwältin und ich wurden von einem Mitarbeiter des Staatssekretariats für Migration (SEM) empfangen, der die Sitzung leitete. Wir wurden ins Zimmer gebracht, wo uns Wasser angeboten wurde. Ebenfalls im Saal sassen der Dolmetscher und der Berichterstatter der Sitzung vor seinen beiden Computerbildschirmen. In dieser ersten Anhörung ging es um meinen Werdegang (Leben, Familie, Schule, Beruf) und die Gründe meines Gesuchs. Ich musste meine Aussagen mit den Beweisen untermauern, die mir zur Verfügung standen und die ich auf Anraten meiner Anwältin mitgebracht hatte. Anfangs war ich locker, aber als ich mich an einige schmerzhafte Erlebnisse erinnerte, wurde ich immer angespannter. Die Sitzung dauerte über vier Stunden mit zwei 20-minütigen Pausen. Am Schluss war ich völlig fertig.

Wie weiter? Die zusammengetragenen Elemente würden analysiert und der Entscheid über das weitere Verfahren werde uns mitgeteilt. Die Rolle meiner Anwältin? Ihre Anwesenheit war mehr als hilfreich. Sie war sehr aufmerksam und schritt ein, wenn es nötig war. Ausserdem kümmerte sie sich auch und vor allem psychologisch um mich, beruhigte mich in den Pausen und bot mir Tee an, um mich zu entspannen. Das war für den guten Verlauf der Sitzung sehr förderlich. In dieser Nacht konnte ich besser schlafen, denn ich hatte mich von der schweren Last auf meinen Schultern befreit. Während ich auf die Antwort des SEM wartete, hatte ich eine kleine Verschnaufpause, und ich konnte meinen Kopf freimachen.

In der Zwischenzeit war wegen der Schmerzen, die ich im Herzen verspürte, ein Termin für mich vereinbart worden, um mich umfangreichen kardiologischen Untersuchungen zu unterziehen. Diese ergaben, dass eine meiner Arterien verstopft war. Angesichts der Dringlichkeit der Situation wurde ich schnell für eine Koronarangioplastie (Stentimplantation) eingeplant, um eine gute Durchblutung des Herzmuskels wiederherzustellen. An dem Tag, an dem ich operiert werden sollte, war ich nicht im Zentrum, sondern draussen im Wald am Arbeiten.

Man fand mich später, als ich gerade Pause machte. Man sagte mir, ich solle die Arbeit niederlegen und mich für die Operation ins Spital begeben. Ich bekam Panik. Aber einer der Zentrumsleiter beruhigte mich: «Hab keine Angst. Wir sind hier in der Schweiz, und wir haben gute Ärzte. Alles wird gut.» Mit diesen ermutigenden Worten ging ich also ins Spital, um mich operieren zu lassen. Der Eingriff verlief gut und ich konnte am nächsten Nachmittag ins Zentrum zurückkehren – zum grossen Erstaunen meiner Zimmerkameraden. Als Folge dieser Operation musste ich mehrere Medikamente einnehmen, eines davon sogar für den Rest meines Lebens. Das waren beängstigende Neuigkeiten.

Im November fand bereits die zweite Anhörung statt. Ich hatte gerade Zeit, mich von meiner Operation zu erholen. «Auf mein Dossier war eingegangen worden, und es sollte daher in einer zweiten Anhörung vertieft geprüft werden.» Ich traf mich also wieder mit meiner Anwältin zur Vorbereitung. Während dieses Treffens erklärte sie mir, dass diese Anhörung für den Entscheid über mein Gesuch sehr wichtig sei. Sie sagte: «Dieses Gespräch wird länger als das erste und dauert den ganzen Tag, denn du musst so viele Details wie möglich zu den Aussagen von der ersten Anhörung geben.»

Und tatsächlich: Die zweite Anhörung begann um 9 Uhr und endete erst nach 18 Uhr. Danach sagte mir der Befrager vom SEM: «Nun verfügen wir über alle Elemente, um über Ihr Gesuch zu entscheiden. Wir werden Ihnen die Antwort über Ihre Anwältin zukommen lassen.» Als ich den Saal verliess, wünschte mir der Dolmetscher, der ebenfalls müde war, viel Glück. Meine Anwältin war immer wachsam und hatte während der Sitzung einige ungenaue Übersetzungen korrigiert. Ich fragte sie, wie es gelaufen sei. Sie sagte: «Es war gut. Du hast mit deinem Herzen gesprochen. Jetzt warten wir auf die Antwort. Wenn sie positiv ist: perfekt. Und wenn nicht, können wir Rekurs einlegen.» Ich nickte unsicher. Zurück in meinem Zimmer stellte ich mir tausend Fragen.

Die Antwort des SEM: erweitertes Verfahren 

Eine Woche nach der Anhörung lag die Antwort bereit. Ich wurde gebeten, mich in einer Woche ins Büro der Rechtsberatung zu begeben, um sie zur Kenntnis zu nehmen. Die Assistentin des Büros sagte mir, dass meine Anwältin einige ihrer Kollegen beauftragt hatte, mir das Ergebnis mitzuteilen. «Warum sagt sie es mir nicht selbst?», fragte ich mich. Vielleicht weil die Antwort negativ war? Ich war verunsichert. Es fiel mir schwer, auf den Termin am Montag zu warten, um Gewissheit zu haben. Das Wochenende erschien mir unendlich lange.

Schliesslich begab ich mich am Montagnachmittag ins Büro. «Nach Prüfung der vorgelegten Elemente trat mein Antrag in die so genannte erweiterte Verfahrensphase ein.» «Ihr Gesuch ist auf gutem Weg», fügten die Anwälte hinzu, die mir die Antwort mitteilten. Ich war nicht begeistert, aber erleichtert, dass ich keine negativen Bescheid erhalten hatte. Für diese Phase wurde ich in der Woche darauf in ein anderes Zentrum verlegt. Ich unterzeichnete erneut ein Dokument, um meiner Anwältin eine Vertretungsvollmacht für das weitere Verfahren zu erteilen.

Von Bern nach Tramelan 

Nach zwei Monaten und ein paar Tagen wurde ich von Bern nach Tramelan im Berner Jura verlegt. Am Morgen meiner Abreise übermittelte mir das SEM die nötigen Dokumente für meine Reise. Erste Etappe: das Amt für Bevölkerungsdienste, wo ich meinen Ausländerausweis N erhielt. An diesem Morgen informierte ich die Sozialbetreuer der ORS über meine Abreise. Ein Moment voller Emotionen. Sie wünschten mir alles Gute für die Zukunft. Danach wurde ich von einem Zimmerkameraden zum Bus begleitet. Andere Personen wurden ebenfalls verlegt und reisten zur gleichen Zeit ab. Wir trafen uns im Amt für Bevölkerungsdienste wieder.

Als ich dort auf meinen Ausweis wartete, kam eine junge Frau, die auch verlegt wurde, um sich nochmals zu verabschieden. Als sie ging, fragte ein anderer Mann, zweifellos ein Asylbewerber, wohin sie verlegt werde. «Tramelan », sagte sie. Da antwortete der Herr: «Oh la la! Tramelan is not good. There is too much cold and there is no work. I was there before». Was mir in diesem Moment durch den Kopf ging? Ich betete, dass man mich nicht an diesen Ort schicken würde. Aber mein Wunsch ging nicht in Erfüllung, denn auch mein Zielort war Tramelan. Ich nahm mir vor, das Beste daraus zu machen und die Worte dieses Herrn zu vergessen.

Im Dezember kam ich in Tramelan an. Es war ein kalter Wintertag. Ich folgte dem Plan, um zum Zentrum zu gelangen. Unterwegs fragte ich einen warm angezogenen Passanten, ob ich auf dem richtigen Weg sei. Bestätigt durch seine Antwort ging ich weiter bis zum Zentrum. Dort angekommen wurde ich registriert, wie zuvor in den anderen Zentren. Anschliessend brachte man mich in meine neue Unterkunft, die ich mit zwei anderen Personen teilte.

Müde von der Reise, legte ich mich hin, um ein bisschen nachzudenken. Ich war in meinen Gedanken versunken, als mich einer der Typen aus dem Zimmer weckte, weil ich mein Gepäck noch nicht verstaut hatte. Offenbar blockierte es den Platz, wo er betete. Er war Muslim. Dieser Typ machte mir das Leben so schwer, dass mich die Zentrumsleitung später in ein anderes Zimmer einteilen mussten. In der Küche der Wohnung traf ich die Bewohner der anderen Zimmer. Da sie schon länger dort wohnten, wollten sie mich und meine Geschichte kennenlernen. Im Gespräch erfuhr ich, dass sie schon lange hier waren und ihre Asylanträge abgelehnt wurden.

Nachts hatte ich nicht viel geschlafen, denn ich dachte über das Gespräch mit den Nachbarn vom Vorabend nach. Ausserdem ging mein unerträglicher Zimmergenosse die ganze Nacht ein und aus. Am nächsten Morgen war ich deshalb nicht gut gelaunt. Eine tiefe Melancholie hatte mich ergriffen. Ich beschloss daher, einen Spaziergang durch die Stadt zu machen, um meine neue Heimat zu entdecken. Meine Schritte führten mich zum Bahnhof. Dort rief ich meine Frau an. Ich erzählte ihr ein bisschen von meinen ersten Eindrücken und meinen Zweifeln. Sie beruhigte mich. Ich besprach alles mit ihr und lief weiter.

Da kam ich an einer Frau vorbei, die mich um Hilfe bat, um Kleider und andere Dinge in einen Texaid-Container zu heben. Nachdem ich ihr geholfen hatte, setzte ich meinen Weg fort, doch die Frau rief mich zurück. Sie eilte zu ihrem Auto und kam mit einem neuen Paar Schuhe zurück. Das war eine schöne Überraschung, die meine schlechte Stimmung in Freude verwandelte. Ich führte meinen Spaziergang fröhlich weiter. Plötzlich stand ich vor einer Kirche, in der am Abend eine Rezitation des Rosenkranzes geplant war. Ich konnte es nicht besser treffen. Mit dem Plan, am Abend zum Gebet zurückzukehren, ging ich ins Zentrum zurück.

Am Abend wurde ich in der Kirche von den Anwesenden herzlich empfangen. Sie redeten mit mir und stellten mir Fragen. Ich erzählte ihnen, dass ich am Vorabend alleine angekommen war. Sie freuten sich, mich bei ihnen zu begrüssen. Am Ende lud mich eine Familie ein, Weihnachten bei ihnen zu verbringen, damit ich mich ohne meine Familie nicht einsam fühlte. Was für eine Überraschung. Ich hatte neue Beziehungen zu neuen Personen geschaffen. Ich war etwas erleichtert. Jetzt wusste ich, wo ich in schweren Momenten Trost finden konnte. Für mich stand zweifellos fest: Der Herr zeigte sich erneut in dem Moment, in dem ich ihn brauchte.

Zwei Wochen nach meiner Ankunft hatte ich in der Kirche und im Dorf neue Freunde gefunden. In der Zwischenzeit lief mein Verfahren in Bern weiter. Ich erhielt ein Schreiben meiner Anwältin, die sich mit mir treffen wollte, um neue Informationen zu meinem Dossier zu besprechen. Worum es wohl ging? Ich konnte kaum stillsitzen und zählte die Tage. Dann kam der Tag unseres Treffens. Früh am Morgen verliess ich Tramelan in Richtung Bern. Dort angekommen ging ich in meine Kirche, um zu beten, bevor ich meine Anwältin traf. Sie teilte mir schliesslich den positiven Entscheid des Staatssekretariats für Migration mit. Sie fügte hinzu: «Jetzt kannst du deine Familie nachholen». Ich dankte Gott, meiner Anwältin und ihren Kollegen. Danach rief ich meine Frau an, um ihr die guten Neuigkeiten mitzuteilen.

Heute habe ich meine Integration begonnen. Ein neues Leben in einer neuen Umgebung – das ist meine neue Herausforderung.

* Der Autor ist der Redaktion bekannt. Er möchte nicht genannt werden.


Webseite der ökumenischen Seelsorge für Asylsuchende im Kanton Bern 

 

 

 

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