Es hat wunderbar «gmönscheled»

Ein Nachtrag zu den olympischen Spielen von Tokio

Selten wurden Einzelschicksale derart berührend ins Zentrum gerückt wie dieses Jahr. Ein Nachtrag zu den olympischen Spielen von Tokio. 

Von Andreas Krummenacher

Die olympischen Spiele von Tokio sind diesen Sonntag zu Ende gegangen. Von absurden Pandemiespielen war zu lesen, abgekapselt von Zeit und Zuschauer*innen. Es gab grundsätzliche Kritik an der Durchführung. Auf jeden Fall war es ein denkwürdiger Sportanlass, der in vielerlei Hinsicht die Stärken und Schwächen des Menschen konzentriert an einem Ort und in sehr kurzer Zeit offenbarte. Doping, Körperkult und Eitelkeit, übersteigerter Ehrgeiz, Tierquälerei und ein olympisches Komitee, über das man gar nicht nachdenken will – alles inklusive.

Berührende Einzelschicksale

Selten zuvor aber wurden Einzelschicksale derart berührend und gefühlvoll ins Zentrum gerückt. Insgesamt waren es die wohl inklusivsten Spiele überhaupt. Diversität wo man hinschaute. Zum ersten Mal waren Transmenschen zugelassen, etwa die neuseeländische Gewichtheberin Laurel Hubbard. Die Eröffnungsfeier präsentierte Menschen in allen Farben des Regenbogens, alt, jung, mit Handicap und ohne.

Die olympische Flamme wurde von der Tennisspielerin Naomi Osaka entzündet. Aufgewachsen in den USA, engagiert sich die gebürtige Japanerin mit ­haitianischen Wurzeln gegen Rassismus. Ihre Mutter war aus rassistischen Gründen von ihrer Herkunftsfamilie verstossen worden. Osaka machte ausserdem unlängst öffentlich, dass sie seit Jahren unter Depressionen leide.

Solche Geschichten gab es einige zu hören an diesen Spielen. Noch vor nicht allzu langer Zeit wäre es undenkbar gewesen, als Sportler*in auch nur die kleinste Schwäche einzugestehen. Die US-amerikanische Turnerin Simone Biles etwa leidet ebenfalls an psychischen Problemen. Sie verzichtete deshalb auf ihre Teilnahme an den meisten Finals und bat an einer Medienkonferenz um Ruhe. Beim Wettbewerb am Schwebebalken turnte sie dann wieder mit und gewann Bronze.

Gegen Sexismus

Im Turnen sorgten weitere Frauen für gesellschaftspolitisches Aufsehen. Das deutsche Frauenteam machte auf die «Sexualisierung von Frauen durch Sportbekleidung» aufmerksam. Die Turnerinnen erschienen nicht im üblichen Leotard, einem badeanzugartigen Outfit, sondern in einem Ganzkörperanzug. Gegenüber dem Fernsehsender ZDF erklärte die Turnerin Sarah Voss knapp: «Man fühlt sich manchmal ziemlich nackt.»

Stricken für den guten Zweck

Der Wasserspringer Tom Daley ist in Grossbritannien offenbar sehr bekannt. In seiner Karriere war er immer der Jüngste. Der 27-jährige Gold- und Bronzemedaillengewinner nahm in Tokio bereits zum vierten Mal an olympischen Spielen teil. Hier sah man ihn, wie er in jeder freien Minute auf der Tribüne strickte. Für seine «gelismeten» Sachen hat er einen eigenen Instagram-Account: madewithlovebytomdaley. Dort machte er nun bekannt, dass er seinen «olympischen Cardigan» fertig gestrickt habe. Die Aktion diente dazu, für eine Organisation zur Erforschung von Hirntumoren Spenden zu sammeln. Sein Vater war mit 40 Jahren an Krebs gestorben. Tom Daley übrigens hat seinen Partner geheiratet. Die beiden Männer sind seit Kurzem Eltern eines ­Kindes.

Amateurin gewinnt Bronze

Zum Schluss zur Königsdisziplin an der Olympiade, dem Marathonlauf. Es gibt eine alte Erzählung des griechischen Geschichtsschreibers Herodot, wonach ein Laufbote von Athen nach Sparta gerannt sei, um Hilfe im Krieg gegen die Perser zu suchen. In späteren Erzählungen wird berichtet, der Bote sei anschliessend tot zusammengebrochen. Auf diesem Mythos gründet die gut 42 Kilometer lange Laufstrecke.

Den Marathon an den olympischen Spielen von Tokio gewannen bei den Frauen zwei Kenianerinnen. Die Bronzemedaille ging an die Amerikanerin Molly Seidel, eine Amateurin. Diese war in ihrer Schülerinnen- und Studienzeit ein grosses Talent, verletzte sich, erkrankte an Depressionen und Bulimie. Vor einem Jahr dann ihr ­Comeback, und jetzt diese Olympiamedaille. Hauptberuflich ist Molly Seidel Babysitterin und arbeitet in einem Café. Die Essstörung hat sie nach eigenen Aussagen «recht gut» im Griff, eine Waage benutze sie nicht mehr.

Happy End

Bei den Männern gewann der Kenianer Eliud Kipchoge. Dieser ist ein Marathon-Superstar. Sein Laufstil sieht sehr leicht aus, als wäre das alles gar keine Anstrengung. Der 36-jährige Weltrekordler siegte in 2.08.38 Stunden souverän. Er ist erst der dritte Läufer, der einen Olympiasieg in dieser Disziplin wiederholen konnte. Kipchoge ist ein überaus positiver Mensch. Er will inspirieren, zur Bewegung animieren. Auffällig bei ihm: Er rennt immer mit einem Lächeln im Gesicht. Darauf angesprochen, sagte er kurz nach dem Rennen in einem Interview: «Dieses Lächeln ist das Glück. Man sagt, dass man glücklich sein muss, um diese Welt zu geniessen. Wenn du glücklich bist, hilft dir das, dich zu entspannen und das Rennen zu geniessen.»

Die Silbermedaille ging an den Niederländer Abdi Nageeye. Dieser stammt ursprünglich aus Somalia, durchlebte schreckliche Jahre auf der Flucht und wurde schliesslich in ­Holland adoptiert. Ebenso der drittplatzierte ­Bashir Abdi ...

Man kann diese Geschichten nicht alle ­erzählen, es sind zu viele. Ausserdem wird nicht jedes Kriegsopfer Olympiasieger, viele psychische Krankheiten können nie geheilt werden. Es gibt leider viele Menschen, die keine Unterstützung erfahren, an die niemand glaubt. Beides aber steht am Anfang des ­Erfolgs der hier erwähnten Sportler*innen. 

 

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